Geröll im Kanderflussbett mit grünen und besonnten Bergketten

Die Kander macht mit dem Gasterntal, was sie will. Der Wildbach gestaltet den Talboden nach Lust und Laune um, er knabbert an Wegen, Weiden und Wäldern, und er formt Auen und Wasserfälle von einzigartiger Schönheit. Eine Wanderung zur Urgewalt des Wassers.

Oktober 2011. Eine Kaltfront bringt dem Gasterntal, einem Seitental bei Kandersteg im Berner Oberland, eine zünftige Ladung Schnee. Nichts Ungewöhnliches für die Jahreszeit. Doch der Kälte folgt die Wärme, und die hat es in sich. Die Temperatur schnellt in die Höhe, der Schnee schmilzt rasch, dazu giesst es wie aus Kübeln. Stundenlang. Am Morgen des 10. Oktober folgt das grosse Finale: Schlamm- und Gerölllawinen donnern von den steilen Bergen Richtung Talboden, die Kander, welche durch das Gasterntal nach Kandersteg fliesst, tritt über die Ufer und reisst alles mit, was sich ihr in den Weg stellt: Wege, Strassen, Brücken, Wiesen, Weide, Bäume, Felsbrocken.

Besonders heftig trifft es den hinteren Teil des Tals zwischen dem Weiler Selden und dem Talschluss. Murgänge drängen die Kander von der einen Talseite auf die 30 Meter entfernte andere Talseite, das alte Flussbett; viel Weideland für die Kühe und Ziegen der Alp Heimritz und ein Teil der mächtigen Wälder verschwinden unter Schlamm und Geröll. Innert Stunden schafft die Natur eine neue Welt – eine Welt, die unter die Haut geht.

Gasterntal Wasserfall im Sommer bei Sonnenschein
Wasserfälle begleiten den Wanderer auf dem Weg zum Kanderfirn.

Das Gasterntal - Anschauungsunterricht zu Naturkräften 

Wegbauern, Lernenden und Zivilschützern ist es zu verdanken, dass dem Wanderer das ehemalige Unwettergebiet heute wieder zugänglich ist. Wobei: Was heisst ehemalig? Auf der Wanderung von Selden zum Kanderfirn, an dessen Gletscherzunge die Kander entspringt, werden wir mehrmals Zeuge, wie die Natur den Menschen auf Trab hält, Rüfen und Felsbrocken zu Tal schickt und den ungezähmten Wildbach an Wegen, Brücken und Weiden knabbern lässt. Eindrücklicher als während der Wanderung von Selden zum Kanderfirn könnte Anschauungsunterricht zum Thema «Naturkräfte» nicht ausfallen.

In Erinnerung bleiben wird bereits die Anfahrt von Kandersteg. Die Strasse ins Gasterntal wurde der Natur regelrecht abgetrotzt. In der Chlus, dem engen Talzugang, klebt sie an überhängenden Felsen, danach zwängt sie sich zwischen die steilen Bergflanken und die Kander, die im Gasterntal frei mäandriert und den Talboden mit vielen Flussarmen gestaltet. Im Weiler Selden ist für den Bus Endstation, weiter geht es zu Fuss. Beliebt ist der Aufstieg zum Lötschenpass, den ältesten Übergang zwischen Bern und Wallis. Schon die Römer sollen ihn benutzt haben, später folgten Säumer und Händler. Selden war damals ganzjährig bewohnt, in den Gasthäusern fanden die Reisenden Tisch und Bett. Als Mitte des 18. Jahrhunderts der einfacher zu begehende Weg über den Gemmipass eröffnet wurde, kam der Handelsverkehr zum Erliegen. Heute lebt man nur noch im Sommer im Tal, rund 15 Menschen betreiben vier Gasthäuser und die Landwirtschaft.

Grosse Felsblöcke im Gasterntal im Sommer
Manchmal schicken die Berge riesige Brocken zu Tal, wie hier zuhinterst im Gasterntal.

Geröll statt Weiden im Gasterntal

In Selden lässt die Sonne auf sich warten: Das Gasterntal ist eng, die Berge hoch. Sie heissen Doldenhorn, Fründenhorn, Oeschinenhorn und Blüemlisalp im Norden und Altels, Balmhorn, Hockenhorn, Sackhorn und Birghorn im Süden und werden uns den ganzen Tag begleiten. Bis zur Hängebrücke im Gantbödeli dürfen wir wählen: rechte oder linke Talseite. Jede hat einen Weg, so lässt sich ab Selden eine schöne, kurze Runde wandern. Wir entscheiden uns für den in Gehrichtung rechten. Er fällt etwas sanft er aus, das passt zum Auftakt.

Von Beginn weg zeigt die Kander, wer im Tal das Sagen hat. Der Regen vom Vortag reicht, dass der Bach Unmengen Wasser führt. Bald ist die Alp Heimritz und damit das Unwettergebiet von 2011 erreicht. Statt über Weiden wandert man jetzt über Geröll, Sand und Matsch, statt saftigem Gras wachsen am Wegrand Himbeersträuche, die uns mit einem zweiten Frühstück erfreuen, und immer wieder kommt der Fluss dem Weg bedrohlich nah. Doch aller Tragik zum Trotz strahlt die Landschaft viel Faszinierendes aus; so viel ungebändigte Natur begegnet einem nicht oft .

Gletscher und Berge im Sommer auf der Kanderfrin
Am Kanderfirn entspringt die Kander und nimmt ihren Lauf durchs Gasterntal.

Perspektivenwechsel auf dem Kanderfirn

Nach dem Gantbödeli ist auf dem weiteren Aufstieg zum Kanderfirn ein Perspektivenwechsel angesagt. Vor uns liegt der steile Talschluss, dessen Felswände die Kander mit Wasserfällen verziert. Irgendwie müssen wir da rauf, die Frage ist wie. Die Moräne liefert die Antwort. Auf ihrem Rücken nimmt sie uns mit zum Schafgrind, dem kleinen Gipfel, der über dem Kanderfirn wacht. Einfach gestaltet sich die Sache nicht. Die Hänge sind lebendig, das Birghorn hat unlängst mehrere Steinlawinen zu Tal geschickt, die wir kraxelnd überwinden. Der wohl eindrücklichste Zeuge für die Kraft der Natur ist ein haushoher Felsblock, der seit 2011 neben dem Wanderweg liegt.

Auf dem Schafgrind eröffnet sich nochmals eine andere Welt. Auf der einen Seite der Tiefblick zurück ins Gasterntal, auf der anderen Seite der Eispanzer des Kanderfirns, der sich bis zum Horizont zieht, dazwischen ein Geröllfeld mit einem Steinbock, der uns neugierig beäugt. Wer hier weiter will, braucht Gletscherausrüstung. Für uns Wanderer geht's auf demselben Weg zurück zur wackligen Hängebrücke Gantbödeli und dann auf der anderen Talseite nach Selden.

Was bleibt, ist ein Gefühl der Ehrfurcht. Die Ehrfurcht vor der Natur, die in einem Tag umgestalten kann, was der Mensch über Jahrzehnte geschaffen hat.

Tipps und Informationen zur Wanderung Gasterntal - Kanderfirn

Wanderung: Selden – Heimritz – Hängebrücke Gantbödeli – Kanderfirn (Uf de Schafgrinde) und zurück. Zwischen Selden und Hängebrücke Gantbödeli Rundweg. Hin auf der südlichen Talseite, zurück auf der nördlichen. Varianten: Wem der Aufstieg zum Kanderfi rn zu lang ist, bekommt auf der Rundwanderung bis zur Hängebrücke auch viel mit von der Urwelt im hinteren Gasterntal. Wer Lust hat auf noch mehr Urwelt: in Selden übernachten und am nächsten Tag der wilden Kander entlang nach Kandersteg.
Anforderungen: Guter Tritt und solide Kondition nötig. Die Wege sind bestens markiert, teilweise aber steil. Einzelne Abschnitte führen weglos über Geröll. Reine Wanderzeit gut fünf Stunden.
An- und Rückreise: Mit dem Zug nach Kandersteg, von dort Privatbus nach Selden Gasterntal. Reservation obligatorisch unter Telefon 033 671 11 72.
Einkehr: In Selden zwei und im Heimritz ein Gasthaus mit Übernachtungsmöglichkeit.
Karten: Swisstopo-Wanderkarte 1:50 000, Blatt Jungfrau (264T); Swisstopo-Landeskarte 1:25 000, Blatt Lötschental (1268).

Weitere Sommerwanderungen die schön zu erleben sind:

Wandern in der Sagen- und Urwelt des Val Müstair

Wanderung im Unterengadin zum God Tamangur

Wandern in der Urschweiz, auf der Göscheneralp


NATURZYT Ausgabe Juni 2019, Text/Fotos Daniel Fleuti

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