Der Rothirsch gilt als König des Waldes. Doch das Leben eines Königs kann manchmal ganz schön anstrengend sein. Vor allem zur Brunftzeit.
Jetzt röhren sie wieder: Im September beginnt die Brunftzeit der Rothirsche. Ihre urtümlichen Schreie durchdringen die Wälder und markieren Präsenz. Bis zu fünfhundert Schreie kann ein brünftiger Hirsch pro Stunde ausstossen und damit seine Rivalen beeindrucken und die Kühe erregen. Geübte Ohren können im Röhren feine Unterschiede heraushören, je nachdem, an wen sich die Lautäusserungen richten: Sucht ein Hirsch nach Weibchen, schwingt in seinen Rufen Sehnsucht mit; warnt ein Platzhirsch seine Rivalen, lässt er Aggression mitklingen; fordert ein Jüngerer den Platzhirsch heraus, reizt er ihn mit herausforderndem Röhren.
Rothirsche röhren um die Gunst der Hirschkühe
Der Herbst ist eine aufregende Zeit im Leben der Hirschstiere, gilt es doch, sich gegen Rivalen zu behaupten und möglichst viele Hirschkühe im Brunftrudel zu behalten und zu decken. Da die beiden Geschlechter unterschiedliche Lebensstrategien haben, leben sie den grössten Teil des Jahres in getrennten Rudeln. Im Spätsommer kommt Bewegung in die Rudel der Stiere: Da der Hormonzyklus die älteren Tiere früher brünftig werden lässt, trennen sich diese als Erste von ihrem Rudel, um sich auf die Suche nach Hirschkühen zu begeben. Hat ein Stier ein Rudel von Hirschkühen gefunden, muss er seine Position als Platzhirsch verteidigen. Denn die Konkurrenz schläft nicht: Auch andere Hirsche erheben Anspruch auf die Weibchen. So kommt es zu eigentlichen Rufduellen und zu ritualisierten Parallelmärschen, bei denen die Kontrahenten in geringem Abstand parallel nebeneinander herstolzieren und versuchen, den anderen mit Imponiergebaren, Drohgesten und lautem Röhren einzuschüchtern. Zeigt sich keines der beiden Tiere davon beeindruckt, werfen die beiden sich gleichzeitig herum und verhaken die Geweihe ineinander. Die eigentliche Kampfhandlung besteht aber darin, sich frontal gegeneinander zu stemmen und wegzuschieben. Diese Schiebekämpfe dauern so lange, bis einer der Kontrahenten klein beigibt und das Feld dem Stärkeren überlässt.
Das Leben eines Platzhirsches ist nicht einfach. Er ist ständig damit beschäftigt, sein Rudel zu hüten, die Konkurrenten in Schach zu halten und die paarungsbereiten Kühe zu decken. Dies alles zehrt an den Kräften, und zum Äsen bleibt kaum Zeit. So verlieren die Platzhirsche bis zu 20 Prozent ihres Gewichts und sind gezeichnet von den Anstrengungen im oft steilen Gelände. Nach dem Ende der Brunft ziehen sich die männlichen Rothirsche wieder in ihr angestammtes Gebiet zurück, um sich noch vor Einbruch des Winters das verlorene Gewicht anzufressen.
Rothirsche verlieren im Winter ihr Hirschgeweih
Sobald Schnee fällt und eine geschlossene dicke Decke bildet, brechen die im Gebirge lebenden Rothirsche zu ihrer saisonalen Wanderung auf: Die Rudel verschieben sich in tiefer gelegene Lagen oder suchen Sonnenhänge auf. Die im Schweizerischen Nationalpark lebenden Hirsche beispielsweise wandern bis zu 40 Kilometer in die Haupttäler des Engadins, ins Münstertal oder sogar bis ins italienische Vinschgau.
Nach den Aufregungen des Herbstes geht es im Winter für die Hirsche wieder etwas ruhiger zu und her. Sie bewegen sich nur noch wenig, um Energie zu sparen. Doch in ihrem Körper vollziehen sich tiefgreifende Veränderungen: Das Verdauungssystem stellt sich auf nährstoffarme Nahrung um, sodass die Tiere weniger Nahrung benötigen; das Sexualhormon Testosteron sinkt auf einen Tiefstand. Als Folge des sinkenden Testosteronspiegels wird die Knochensubstanz zwischen dem Geweih und den knöchernen Geweihsockeln, den sogenannten Rosenstöcken am Kopf des Tieres, zerstört. Dadurch lösen sich die Geweihstangen und der Hirsch steht im Februar plötzlich «oben ohne» da. Die beiden Geweihstangen werden manchmal gleichzeitig abgeworfen, manchmal fällt die zweite Stange einige Stunden später ab.
Für Stangensammler ist dies der Moment, sich auf die Suche nach dem begehrten Kopfschmuck zu begeben. In Winterruhezonen für Wildtiere kann man beobachten, wie pünktlich um Mitternacht nach dem Ende der Schutzdauer allenthalben Taschenlampen aufblitzen und Stangensammler trophäensuchend im Wald herumstolpern. Doch nicht nur auf Menschen üben Geweihe eine Faszination aus – auch kleine Waldbewohner freuen sich über den Fund einer abgeworfenen Stange: Eichhörnchen und Mäuse knabbern mit ihren scharfen Nagezähnen an den Stangen, um sich an den wertvollen Mineralstoffen gütlich zu tun.
Das Geweih des Rothirsches wäscht im Frühling nach
Bei den Hirschen aber sorgen die länger werdenden Tage im Frühjahr dafür, dass vermehrt ein Wachstumshormon gebildet wird. Dieses regt das neuerliche Wachstum des Geweihs an: Bereits kurze Zeit nach dem Abwerfen der Stangen beginnen sich auf den Rosenstöcken die neuen Geweih knospen emporzuwölben. Damit das Geweih wachsen kann, müssen Nährstoff e wie Kalzium und Phosphor zu den Spitzen geschafft werden. Dies geschieht über Blutbahnen in der weich behaarten Haut, der Basthaut, die das wachsende Geweih umhüllt. Nach Ende des Wachstums verknöchert das Geweih und die Basthaut wird nicht mehr benötigt. Sie wird von den Tieren an Sträuchern oder Zweigen abgefegt. Die Säfte der zum Fegen genutzten Pflanzen sowie die Erde, in denen die Hirsche herumstochern, sorgen für eine individuelle Färbung des Geweihs. In nur 120 bis 140 Tagen wächst dem Hirsch ein völlig neues Geweih, Jahr für Jahr – ein physiologischer Kraftakt sondergleichen.
Rund 30 000 Rothirsche leben heute in der Schweiz. Keine Selbstverständlichkeit, denn Mitte des 19. Jahrhunderts war das Röhren des Rothirsches in den Schweizer Wäldern verstummt. Die damalige grossflächige Abholzung des Waldes hatte seinen Lebensraum immer mehr eingeengt, die unkontrollierte Jagd gab der arg dezimierten Population den Rest. Doch die Wälder erholten sich, das 1875 verabschiedete eidgenössische Jagdgesetz stellte den Rothirsch unter Schutz und prompt gab die Tierart ein Comeback: Einzelne Rothirsche wanderten aus Österreich wieder in die Schweiz ein und vermehrten sich, zum Teil massiv. Mit der Ausbreitung des Rotwilds nehmen auch die Schäden zu. Denn auf dem Speisezettel des grössten einheimischen Pflanzenfressers stehen neben Gräsern und Kräutern auch Triebe, Blätter und Nadeln von Bäumen. Vor allem im Winter ist diese Baumnahrung für die Tiere wichtig. Besonders verheerend wirkt sich das «Schälen» aus, wenn die Hirsche an jüngeren Bäumen die Rinde vom Stamm schälen und abreissen, um sie zu fressen. Bei hohen Hirschbeständen wird so die natürliche Waldverjüngung gefährdet. Um solche Schäden zu vermindern, wurden verschiedene Massnahmen ergriff en, etwa Sonderjagden, die Verlängerung der Jagd oder die vermehrte Freigabe weiblicher Tiere. Allerdings gestaltet sich die Jagd auf den Hirsch schwierig. Denn die Tiere sind schlau und lernen schnell: Sobald der erste Schuss fällt, ziehen sie sich in Schutzgebiete zurück, wo sie vor den Jägern sicher sind.
Rothirsche im Schweizer Nationalpark beobachten
Im Schweizerischen Nationalpark leben rund 2000 Rothirsche. Sie sind bestens an den alpinen Lebensraum angepasst und steigen in Lagen bis fast 3000 Meter Höhe auf. Der Sommer in den alpinen Lagen ist allerdings kurz – den Tieren bleiben gerade mal fünf Monate, um auf den saftigen Bergwiesen genügend Fettreserven für den bevorstehenden langen Winter anzufressen, was besonders für die Anfang bis Mitte Juni geborenen Kälber überlebenswichtig ist.
Der Schweizerische Nationalpark bietet den Rothirschen zwei entscheidende Vorteile: Sie sind hier vor menschlicher Störung geschützt und finden ausreichend Nahrung. Vor Störungen schützt das Wegegebot für Wanderer. Die Hirsche gewöhnen sich an die Präsenz der Gäste auf den Wanderwegen und lassen sich deshalb auch tagsüber gut beobachten. Eindrücklich zum Beispiel, wenn die Stiere sich an einem heissen Sommertag auf einem Berggrat aufreihen, um sich dort vom leisen Lüftchen abkühlen zu lassen. Ihre Geweihe ragen gut sichtbar als Silhouetten in den Himmel und verleihen dem Grat ein bizarres, zerklüftetes Aussehen.
Zwischen Mitte und Ende September bietet sich den Besuchern ein Schauspiel der besonderen Art. Denn wohl nirgends sonst lässt sich die Brunft der Hirsche besser beobachten als im Nationalpark. Die besten Beobachtungsstandorte befinden sich in der Val Trupchun (gut zweistündiger, leichter Aufstieg ab Prasüras, erreichbar mit dem EngadinBus von Schanf), in der Val Mingèr (zweistündiger, leichter Aufstieg ab Postautohaltestelle Pradatsch) sowie auf dem Murtersattel (dreistündiger Aufstieg ab Vallun Chafuol/P3 oder zwei Stunden ab Chamanna Cluozza). Ein guter Feldstecher oder ein Fernrohr leisten wertvolle Dienste.
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NATURZYT Ausgabe September 2015, Text Claudia Wartmann, Fotos Fotolia, Schweizerischer Nationalpark, Hans Lozza.