Der Steinbock lässt sich nicht so leicht unterkriegen – weder von den Menschen noch vom Winter: Nach seiner Fastausrottung hat er ein fulminantes Comeback gegeben, und mit cleveren Strategien überlebt er in Eis und Schnee.
Bérard, Guiseppe Bérard. So hiess der berüchtigte Wilderer und Schmuggler, der 1906 die ersten Steinbock-Kitze in die Schweiz brachte. Gestohlen hatte er sie aus dem Besitz des italienischen Königs Vittorio Emanuele, der im zerklüfteten Gran Paradiso im Aostatal königliche Jagdbezirke eingerichtet hatte. Dort liess der König die sechzig bis hundert Alpensteinböcke von Wildhütern schützen, denn die Jagd war ihm und seinem königlichen Tross vorbehalten. Vittorio Emanuele war zu Recht stolz auf «seine» Steinböcke, schliesslich waren es die letzten ihrer Art: Im gesamten Alpenraum war der charakteristische Gebirgsbewohner den Jagd- und Essgelüsten der Menschen zum Opfer gefallen und ausgerottet. Auch die von Aberglauben geprägte Volksmedizin war dem Steinbock zum Verhängnis geworden: Die zerriebene Hornspitze wurde als Potenzmittel für den Mann genutzt, das Blut als Heilmittel gegen Blasensteine, und die Magenteile galten als wirksam gegen Melancholie.
Dem König geklaut
Im ersten eidgenössischen Jagdgesetz von 1876 wurde als Ziel die Wiederansiedlung des Steinbocks festgeschrieben. Doch das war einfacher gesagt als getan. Versuche, Alpensteinböcke aus zoologischen Gärten mit Hausziegen zu kreuzen und auszusetzen, scheiterten kläglich. Und der König von Italien war nicht bereit, einige «seiner» Steinböcke aus der letzten wilden Kolonie an die Schweiz zu verkaufen. Da legal keine Steinböcke aufzutreiben waren, griff die Schweiz halt zu illegalen Mitteln. Nach dem Motto «Der Zweck heiligt die Mittel» beschaffte sich die Schweiz Kitze von Guiseppe Bérard und anderen Wilderern aus dem Aostatal. Im Wildpark Peter und Paul in St. Gallen wurden die Tiere gezüchtet und einige Jahre später erstmals ausgewildert. Mit Erfolg: Heute leben wieder gegen 40 000 Steinböcke im gesamten Alpenraum, über 16 000 davon in der Schweiz.
Harte Schale, weicher Kern
In den Alpen, auf 1600 bis 3200 Meter Höhe, findet der Steinbock den Lebensraum, der ihm zusagt: steiles, felsiges Gelände mit Nischen, Unterständen, Geländekanten, gras bewachsenen Simsen und Felsvorsprüngen. Um sich im steilen Hochgebirge sicher bewegen zu können, ist der Steinbock bestens gerüstet: Seine zwei geteilten Hufe sind unabhängig voneinander beweglich, wodurch sich der Fuss an jede Unebenheit anpassen kann. Die Hufe bestehen aus einem harten Rand, den «Schalen», und einem weichen Kern, den «Ballen». Die harten Schalen verleihen den Tieren die nötige Trittfestigkeit im Fels; in Schnee und Eis können sie die Ränder verkanten und so Halt finden. Die weichen und elastischen Ballen hin gegen wirken ähnlich wie Saugnäpfe und sorgen für eine gute Haftung auf den Unebenheiten der Felsen.
Dank ihrer Trittsicherheit sind Steinböcke wahre Kletterkünstler. Kaum geboren, wagen Kitze bereits nach wenigen Tagen waghalsige Sprünge in den Felswänden. Die Fähigkeit, sich im steilen Gelände sicher zu bewegen, gehört zum «Survival-Kit» der Steinböcke. Denn im Winter suchen sie die steilsten nach Süden ausgerichteten Hänge auf, wo der Schnee abrutscht oder rasch wegschmilzt. Hier finden die Tiere selbst im tiefen Winter karges Futter – trockene, heuartige Gräser, deren Zellulose im Wiederkäuermagen gespalten wird, damit die Nährstoffe aufgenommen werden können. Allerdings fressen sich die Steinböcke bereits im Sommer eine Fettreserve an, von der sie während der Wintermonate zehren können. Nicht nur das vorsorglich angefressene Fett leistet während des eisigkalten Winters gute Dienste, sondern auch der Wechsel vom hellen, dünnen Sommerfell zum dunkleren Winterfell mit seiner dichten, wärmenden Unterwolle und den schützenden Deckhaaren.
«sünnelen» am Morgen
Das dicke Winterfell isoliert so gut, dass die Körperwärme den auf dem Fell liegenden Schnee nicht zu schmelzen vermag und die Steinböcke erst bei Temperaturen von minus 35 Grad Celsius zu frösteln beginnen. Da das Winterfell dunkler gefärbt ist als das Sommerfell, vermag es mehr Wärmestrahlung aufzunehmen. Fell und Fett allein würden aber noch nicht ausreichen, um in Schnee und Eis zu überleben. Die Steinböcke haben deshalb weitere Strategien entwickelt, um die harten und rauen Winter im Hochgebirge zu überstehen. So schalten sie ihren Stoffwechsel auf Sparflamme, reduzieren ihre Körpertemperatur, senken ihre Herzschlagrate und bewegen sich generell viel weniger. Vor allem in den Nächten wird die Körpertemperatur gesenkt, um Energie zu sparen. Derart ausgekühlt lassen sich die Steinböcke am Morgen von der Sonne aufwärmen. Dieses passive Aufwärmen braucht kaum Energie, nur etwas Geduld. Werden die Tiere jedoch durch Variantenskifahrer oder Schneeschuhwanderer überraschend gestört, flüchten sie und zehren dabei von ihren wertvollen Energiereserven.
Wie der Frühling, so das Horn
Wenn vom Tal her der Frühling Einzug hält, suchen die Steinböcke tiefer gelegene Bergwiesen auf, wo frisches Gras zu spriessen beginnt. Die Tiere folgen dem Bergfrühling in immer höhere Lagen, wo stets grünes, nährstoffreiches Futter auf sie wartet. Dieses ist ausschlaggebend für die Vitalität der Tiere. Hohe Temperaturen im Frühling lassen den Schnee früher schmelzen, was das Angebot an Nahrung für die Steinböcke verbessert und ihnen optimale Lebensbedingungen ermöglicht. Dies hat auch Auswirkungen auf das Wachstum der Hörner. Eine wissenschaftliche Studie der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL hat nämlich ergeben, dass ein deutlicher Zusammenhang besteht zwischen Frühlingstemperaturen und Hornwachstum: Je höher das Thermometer im Frühling klettert, desto mehr wachsen die Hörner. Dies lässt sich an den Jahrringen nachweisen. So wie die Jahrringe eines Baums die Klimafaktoren widerspiegeln, so bilden sich auch am Steinbockhorn Jahrringe, die die Lebensbedingungen eines Steinbocks aufzeigen. Grosse Abstände zwischen den Ringen und lange Hörner zeugen von optimalen Voraussetzungen, kleine Abstände hingegen lassen auf weniger günstige Bedingungen schliessen.
Die Jahrringe sind nicht etwa an den charakteristischen Höckern sichtbar, sondern an dunklen Furchen auf der Rückseite des Steinbockhorns. Die Furchen bilden sich durch den Stillstand des Wachstums während des Winters. Die Schmuckwülste auf der vorderen Seite der Hörner stimmen nicht mit den Jahrringen überein – in der Regel werden pro Jahr zwei Wülste ausgebildet. Die bis zu einem Meter langen Hörner der Böcke dienen dazu, sich in der Rangordnung hochzukämpfen und sich dadurch Zugang zu den Geissen zu verschaff en. Oft stellen sich die Kämpfer imponierend auf die Hinterbeine und lassen beim Fallen die Hörner gegeneinander prallen – ein Krachen, das weitherum zu hören ist. Wenn die Hierarchie geklärt ist, wendet sich der dominante Bock den Geissen zu; die Verlierer hingegen lauern auf günstige Momente, in denen eine Geiss unbewacht ist. Überraschenderweise buhlen die Böcke ausgerechnet im Dezember und Januar um die Gunst der Geissen, also unter widrigsten Umständen im tiefsten Winter, wenn eigentlich Energiesparen angesagt ist. Wie sie alljährlich den Spagat zwischen Fortpflanzung und Überleben schaffen, ist erstaunlich. Aber für einen Überlebenskünstler wie den Steinbock offenbar kein Problem.
Jahrringe (dunkle Furchen) und Schmuckwülste am Steinbockhorn.
Dem Steinbock auf der Spur
Es ist ein eindrückliches Erlebnis, den «König der Berge» in seinem Reich beobachten zu können. In der Schweiz bieten sich dazu einige Hot Spots an.
Hier eine kleine Auswahl:
- Auf den Juraweiden um die Felsarena Creux-du-Van (NE/VD)
- Im Naturschutzgebiet «La Pierreuse» südlich von Château-d'OEx (VD)
- Auf dem Gemmipass oberhalb von Leukerbad (VS)
- Am Augstmatthorn hoch über dem Brienzersee (BE)
- Auf der Fünf-Seen-Wanderung im Pizolgebiet (SG)
- Auf dem «Steinbock-Weg» beim Piz Languard (Pontresina, GR)
- Auf der «Via Capricorn» im Naturpark Beverin (GR), wo auch geführte Beobachtungstouren angeboten werden.
Wo immer man auch unterwegs ist, gilt es, den Wildtieren mit Rücksicht und Respekt zu begegnen. Die Bedürfnisse der Tiere stehen stets an oberster Stelle und nicht das möglichst formatfüllende Foto, das man gerne schiessen möchte. Die offiziell ausgeschilderten Wanderwege sollten deshalb nicht verlassen werden, denn die Tiere haben sich an Wanderer auf den Wegen gewöhnt. Bewegen sich Menschen abseits der Wanderwege, flüchten die Tiere früher. Keinesfalls sollte man direkt auf Steinböcke oder andere Wildtiere zulaufen, sondern sich hinsetzen und die Beobachtung geniessen. Denn Wildtiere reagieren besonders auf Bewegungen. Wenn man sich hinsetzt und ruhig wartet, verhalten sie sich wesentlich entspannter und reagieren nicht sogleich mit Verhaltensänderungen oder sogar Flucht. Mit Hilfe eines Feldstechers oder Fernrohrs lassen sich die Tiere auch aus grösserer Distanz beobachten. Hunde gehören an die Leine, im Schweizerischen Nationalpark, in Naturschutzgebieten und einigen Jagdbanngebieten ist das Mitführen von Hunden grundsätzlich verboten.
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Murmeltiere - Überleben im Untergrund
NATURZYT Ausgabe März 2016, Text Claudia Wartmann, Fotos Fotolia, Claudia Wartmann