Was als einer der mächtigsten Flüsse Europas bei Rotterdam in die Nordsee mündet, beginnt am Oberalppass klein und sanft seine Reise: der Rhein. Die Schönheit seiner Quelle, des Tomasees, lässt Wanderherzen schmelzen.
Der Rhein ist nicht irgendein Fluss. Er gehört zu den grössten und wichtigsten Strömen Europas. 1231 Kilometer lang ist er, in seinem Einzugsgebiet leben und arbeiten über 60 Millionen Menschen. Der Fluss dient als Trinkwasserreservoir, Stromlieferant, Verkehrsweg und Ausflugsziel, bis zu seiner Mündung bei Rotterdam bildet er ein paar herausragende Landschaften: die Rheinschlucht etwa, bekannt als Grand Canyon der Schweiz, den Bodensee, den Rheinfall und die Loreley in Deutschland, ein UNESCO-Welterbe.
Die Quelle des Rhein liegt im Oberalgebiet
Seine Quelle hat der Rhein im Oberalpgebiet. Und die ist ein wahres Kleinod. Tomasee heisst sie, ein Bergsee wie aus einem Werbeprospekt. Tiefblaues Wasser, umgeben von einer kitschig grünen Aue, Wollgras, Moosen, Blumen und grossen, mit Flechten bewachsenen Steinen. Eingerahmt wird das Ganze von zackigen Bergen mit dunkeln, schroffen Felswänden. Sie heissen Badus, Piz Tuma und Rossbodenstock, von ihnen stammt das Wasser. Dank seiner Schönheit hat der Tomasee Einzug gefunden in das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung.
Lange galt der Platz als Geheimtipp. Diese Zeiten sind vorbei. 2012 kreierten Touristiker den Vier-Quellen-Weg und verbanden die vier Quellen im Gotthardgebiet zu einer Mehrtageswanderung. In der Nachbarschaft zum Rhein brechen nämlich weitere Flüsse zu ihren Reisen auf, die Rhone zum Mittelmeer, der Ticino zum Po und danach zur Adria und die Reuss ins Mittelland, wo sie bei Turgi in die Aare und diese dann kurz danach in den Rhein mündet. Der Vier-Quellen- Weg hat eingeschlagen. Jung und Alt, Gross und Klein, Schulreisen, Vereine, Familien und Freunde pilgern zum malerischen See im engen Talkessel. «Toma» kommt nämlich vom lateinischen «Tumba» und heisst Mulde oder Grab. So schwierig ist die Tour jedoch nicht, dass man um sein Leben fürchten müsste. Ein Spaziergang ist sie aber auch nicht, selbst wenn das einige denken.
Seit am Oberalppass die Rheinquelle beworben wird – mit einem Infocenter und einem Abbild des Leuchtturms von Hoeck von Holland, wo der Fluss in die Nordsee mündet –, hat man das Gefühl, der Tomasee liege gleich um die Ecke. Weit gefehlt. Wer ihn sehen will, braucht einen Tag Zeit, dazu eine Karte und Wanderschuhe. Der Karte entnimmt man, dass zwei Wege zum See führen, ein einfacherer und ein anspruchsvollerer. Der einfachere leitet vom Pass direkt ins weite, liebliche Val Maighels, wo man eine prächtige Aussicht hat auf das Oberalpgebiet und die Bündner Surselva.
Schwindelfrei und trittsicher über den Pazolstock
Herausfordernder ist der Weg über den Pazolastock. Schwindelfrei und trittsicher sollte man sein, und eine gute Puste haben. Es geht nämlich steil hoch, und der Gipfelzustieg ist luftig. Dafür kann man weit hinunterschauen, nach Andermatt, ins Hospental und auf die neuen Skipisten an den gegenüberliegenden Berghängen. In Andermatt haben sie die Fünf-Sterne-Gäste entdeckt. Die wollen nicht nur komfortabel schlafen, sondern auch ausgiebig Ski fahren. Also wurden im grossen Stil Bahnen gebaut, Pisten planiert und Schneekanonen installiert. Eine skurrile Szene. Hat man nach zwei Wanderstunden den geräumigen Gipfel erklommen, kann man den Tomasee schon fast entdecken, ganz rechts, am Fuss des Piz Badus. Erst einmal wartet aber der Fil da Tuma auf uns, ein langgezogener Grat in einer wilden, rauen Hochgebirgslandschaft. Von Weitem sieht er anspruchsvoller aus, als er ist. Der Weg ist gut angelegt und schlängelt gekonnt durch Fels und Geröll. Das Panorama dazu ist einzigartig, die ganze Gotthard-Oberalp-Lukmanier- Region ist um uns herum aufgereiht. Der Gratweg endet auf der Terrasse der Badushütte, eines urgemütlichen Nests zum Verweilen und Die-Beine-Ausstrecken.
Der Tomasee aus der Vogelpespektive bewundern
Für den weiteren Abstieg stehen zwei Wege bereit. Wer den Tomasee erst aus der Vogelperspektive bewundern will, wählt den linken, steileren. Mit ein paar Fixseilen muss man sich zwar anfreunden, aber vom Tiefblick schwärmt man noch lange. Einfacher ist der rechte Weg direkt ins Auengebiet. Diesen Zugang mögen jene, die im See baden wollen. Ein kaltes Vergnügen. Wir lassen uns lieber auf einem der vielen Steine nieder und betrachten das tiefblaue Nass vom Ufer aus. Wie die vielen Schulklassen und Ausflügler auch. Der grosse Granitstein mit der Aufschrift «Rhein. Quelle» räumt die letzten Zweifel aus: Wir sind am Tomasee. Zurück zum Oberalppass geht es für uns unten herum, auf dem einfacheren Zustieg durchs Val Maighels. Von den Hängen des Pazolastocks, durch die unser Weg verläuft , sprudeln weitere Zuflüsse dem Rhein entgegen. Weit kommen sie nicht, wie wir kurz vor dem Pass gewahr werden. Ein Bach nach dem anderen verschwindet im Untergrund, gelangt zum Stausee Lai da Curnera und schliesslich auf die Turbinen der Kraft werke Vorderrhein. Vielleicht entsteht dort ja der Strom für den Zug, der uns am Morgen zum Oberalppass gebracht hat. Und jetzt wieder heim.
Tipps und Informationen zur Wanderung an den Tomasee
Wanderung: Oberalppass–Pazolastock–Badushütte–Tomasee (direkt oder über Alp Tuma)–Trutg Nurschalas–Oberalppass.
Varianten: Statt über den Pazolastock direkt zum Tomasee aufsteigen und auf dem Rückweg in einer Schlaufe an der Maighelshütte vorbei zurück zum Oberalppass.
Anforderungen: Der Weg über den Pazolastock erfordert gute Kondition und sicheren Tritt. Der Weg ist vor dem Gipfel etwas exponiert, aber gut angelegt. Reine Wanderzeit vier drei viertel Stunden. Die Variante ist eine Stunde kürzer und technisch einfacher. Dafür fehlt der Blick vom Gipfel.
An-und Rückreise: Mit dem Zug über Andermatt oder Disentis auf den Oberalppass.
Einkehr: Auf dem Oberalppass, in der Badushütte (bis Ende September) und der Maighelshütte (bis Anfang Oktober).
Karten: Swisstopo-Wanderkarte 1:50 000 Blatt Disentis (256T); Swisstopo-Landeskarte 1:25 000 Blatt Oberalppass (1232).
Weitere Wanderungen im Herbst die erlebnisreich sind:
Wandern an der Doubs mit Eisvogel und Wasseramsel
Wandern im Val Frisal - Die Urwald-Fichten von Scatlè
NATURZYT Ausgabe September 2020, Text, Fotos Daniel Fleuti