Man muss kein Pilger sein, um Bruder Klaus einen Besuch abzustatten. Die Wirkungsstätte von Niklaus von Flüe in der Ranftschlucht bei Flüeli ist auch für profane Spätherbstwanderer ein lohnendes Ziel.
Keine Aussicht, wenig Sonne, rundherum steile Hänge, vor der Haustüre ein ungezähmter Wildbach. Wer sich an solch einen Ort zurückzieht, muss eine spezielle Mission haben. Niklaus von Flüe hatte sie. Der Bauer und Vater von zehn Kindern verliess am 16. Oktober 1467 seine Familie, um als Pilger zu wallfahren – mit dem Einverständnis seiner Frau notabene. Weit weg brachte ihn die Pilgerfahrt nicht. Er zog in die Ranftschlucht bei Flüeli, unweit seines Hofs, und gab sich einem Leben im Einklang mit Gott hin. Sein Tun blieb nicht unbemerkt. Pilger und Staatsmänner aus Nah und Fern holten sich Rat bei Bruder Klaus, wie er sich fortan nannte. Freunde, Nachbarn und Mitbürger errichteten ihm eine Klause samt angebauter Kapelle. Hier wirkte Niklaus von Flüe die letzten zwanzig Jahre seines Lebens als Mystiker und Friedensstifter.
Mit seinem Tod 1487 war die Geschichte nicht zu Ende, im Gegenteil. Bruder Klaus wird bis heute verehrt und hochgeachtet, die Ranft ist einer der wichtigsten Pilgerorte der Schweiz. 1947 sprach die Kirche Bruder Klaus heilig. Zeit also, um dem Nationalheiligen einen Besuch abzustatten und diesen mit einer Herbstwanderung zu verknüpfen.

Die Wanderung startet in Kerns
Wer sich ein paar Höhenmeter Aufstieg ersparen will, startet die Wanderung in Kerns – und stellt bald fest, dass im Spätherbst die Strecke bis Flüeli am Morgen im Schatten liegt. Raureif liegt über den Feldern und auf den Dächern; Mütze, Handschuhe und Schal werden flugs den Rucksäcken entlockt. Kerns mit seiner Durchgangsstrasse ist bald verlassen, im Aufstieg nach Hinteregg umgibt uns wohltuende Ruhe. Der Weg steigt glücklicherweise ordentlich an, so wird einem trotz Schatten und zügigem Wind etwas wärmer. Die gegenüberliegende Talseite hat es besser. Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln die Südseite des Pilatus, das Wahrzeichen der Zentralschweiz stahlt frisch verschneit im Morgenlicht. Der Blick ist ungewohnt. Gemeinhin kennt man den Pilatus als zerklüftete Felspyramide über dem Vierwaldstättersee. Den Obwaldnern präsentiert er sich lieblicher und weniger imposant. Überhaupt fällt die Offenheit der Landschaft auf. Unten im Tal erstreckt sich der Sarnersee, darum herum geht es über sanfte Stufen in die Höhe. Auf diesen Stufen ist die Landwirtschaft zu Hause, unser Weg nach St. Niklausen und Flüeli-Ranft führt an manch stattlichem Hof vorbei. Rast möchte man halten und die Aussicht geniessen auf den See und die Bergwelt – wenn bloss der Schatten und die Kälte nicht wären.

Kapelle um Kapelle auf der Wanderung
Wärme gibt es erst im Kloster Bethanien, die Kapelle inmitten des kühlen 70erJahre-Baus ist eine Entdeckung: Eine Rundkonstruktion aus Holz, raumhohen Fenstern sowie einer Dachwölbung, die dem Relief des Arvigrats nachempfunden ist, dem Berggrat, der die Gipfel hinter dem Kloster miteinander verbindet. Sie heissen Schluchberg, Gräfimattnollen und Stanserhorn und halten die Sonne vor dem Mittag noch immer versteckt. Das Kloster Bethanien macht den Auft akt zum Kapellenreigen rund um die Ranft schlucht. Vier sind es, die einem innert der nächsten halben Stunde begegnen. Die Kapelle St. Niklausen ist die erste. Kirchenliebhaber schwärmen für die barocken Deckenmalereien und den freistehenden Glockenturm im Savoyer Stil, alle anderen sehen sich satt am wundervollen Panorama auf Flüeli, den Sarnersee und die Obwaldner Bergwelt. Denn danach wird᾽s rau. Der Abstieg in die Ranftschlucht ist kurz und steil, weit unten wartet die schmale Brücke über die Grosse Melchaa. Auf halbem Weg klebt am Schluchtenrand die Möslikapelle. Ulrich aus Memmingen lebte hier in einer Höhle unter einem Findling; er wollte seinem Vorbild Bruder Klaus nahe sein. Zehn Minuten später haben wir dessen Heim erreicht. Gleich zwei Kapellen stehen in der Ranft schlucht: Die obere ist die ehemalige Wirkstätte von Niklaus von Flüe, die untere half ab 1501, die rasch wachsende Pilgerschar aufzunehmen.


Zum Jugendstilhotel Paxmontana nach Sachseln
Nach so viel Geistlichem geben wir uns in Flüeli dem Weltlichen hin, das Jugendstilhotel Paxmontana lockt zu einer Kaffee-Auszeit mit historischem Charme. Charme hat auch der Rest der Tour. Mal über weite Wiesen, mal durch verschlungene Herbstwälder geht es dem Sarnersee entgegen. Die Hohe Brücke, mit 100 Metern die höchste gedeckte Holzbrücke Europas, und die etwas nüchterne Lourdes-Grotte werden passiert, dazu gähnt rechterhand die furchterregend tiefe Schlucht der Grossen Melchaa. Liegt mit einem Mal der Duft frischer Backwaren in der Luft, ist Sachseln nicht mehr weit. Im Dorf ist ein Birchermüeslihersteller angesiedelt, bei Föhn ist die Rösterei weitum zu riechen. Der letzte Abschnitt folgt direkt dem Ufer des Sarnersees. Übrigens: Startet man hier seine Tour statt sie zu beenden, hat man den ganzen Tag über Sonne. So einfach geht das.

Tipps und Information zur Wanderung Ranftschlucht
Wanderung: Kerns Post–Sack–Hinteregg–Bethanien–St. Niklausen– Mösli–Ranft–Flüeli–Hohe Brücke–Lourdesgrotte–Seehof–Sachseln.
Anforderungen: Technisch einfache Wanderung, einzig der Abschnitt zwischen St. Niklausen und Ranft ist etwas rutschig und verlangt nach solidem Schuhwerk. Die Wanderung dauert ohne Pausen rund 3 Stunden.
An- und Rückreise: Mit dem Zug nach Sarnen, dann mit dem Post - auto nach Kerns. Zurück ab Sachseln wieder mit dem Zug.
Einkehr: In Kerns, St. Niklausen, Flüeli und Sachseln.
Karten: Swisstopo Wanderkarte 1:50 000, Blatt Stans (245T); Swisstopo Landeskarte 1:25 000, Blätter Alpnach (1170) und Melchtal (1190).
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NATURZYT Ausgabe September 2024, Text/Fotos Daniel Fleuti