Zeichnung einer braunen Schlange auf grünem Hintergrund

Wir sind nicht die einzigen Lebewesen auf diesem Planeten, doch wir sehen die Dinge immer nur aus unserer Sicht. Wie aber wäre es, wenn wir hören könnten, was unsere 4-, 8- oder 111-beinigen Mitbewohner dieser Erde uns zu sagen haben? Was würden sie wohl über uns Menschen denken, und wie würden sie ihr Zusammenleben mit uns empfinden?

Eine spannende Idee – sähen wir das ganze einmal aus ihrer Sicht und erführen, was sie uns alles zu sagen hätten. Naturzyt hat sich deshalb entschlossen, neue Wege auszuprobieren und sich darüber Gedanken zu machen, was wäre, wenn sie wie wir sprächen und wir sie einfach fragen könnten.

In vielen spirituellen Traditionen wird sie als Träger tiefer Weisheit und verborgener Kräfte betrachtet. Die einen finden sie wunderschön – die anderen ekeln sich vor ihr. Viele von ihnen werden leider aus Angst und Ekel sogar zertreten, dabei sind sie keine Gefahr für uns, sondern äusserst nützliche Gartenhelfer im Geheimen. Die Rede ist von unseren faszinierenden, seidig glatten Blindschleichen. An einem sommerlichen lauen Abend haben wir auf unserer Radtour in den nahe gelegenen Wäldern fast eine wunderschöne grosse Blindschleiche überfahren, welche sich grade auf dem Weg sonnte. Also sofort anhalten und sie darauf hinweisen, dass andere vielleicht nicht so vorausschauend Rad fahren und sie überfahren werden könnte, wenn sie sich nicht zurückzieht. Und wer weiss, vielleicht ergibt sich daraus ja ein gutes Gespräch.

GUTEN TAG, BLINDSCHLEICHE. BITTE ENTSCHULDIGE, WENN ICH DICH IN DEINEM SONNENBAD STÖRE, ABER DU LIEGST HIER GERADE IN EINER ZIEMLICHEN GEFAHRENZONE.
Ach ja, wie kommst du denn darauf, und wer bist du überhaupt?

ICH BIN GINI UND HÄTTE DICH BEINAHE MIT DEM RAD ÜBERFAHREN, WENN ICH DICH NICHT GERADE NOCH RECHTZEITIG GESEHEN HÄTTE. MACHT DIR DAS DENN KEINE ANGST?
Doch klar macht mir das Angst, aber wo soll ich denn sonst sonnenbaden?

NA, DA DRÜBEN IST EIN SCHÖNER FLACHER STEIN. DER WÄRE OPTIMAL. SONNE DICH DOCH DORT.
Wo? Ich sehe nichts.

DA DRÜBEN AUF DER ANDEREN SEITE DES WEGES. KANNST DU DEN NICHT SEHEN? ER IST GENAU VOR DIR.
Nö, ich bin zwar nicht blind, wie mein Name Blindschleiche aussagt, aber ich sehe leider trotzdem nicht so gut. Ausserdem möchte ich nicht jedes Mal über den ganzen breiten Weg schlängeln müssen. Ich bin nicht so wahnsinnig agil wie eine Schlange und ich bin nicht schon 10 Jahre alt geworden, um mich jetzt wie ein Wahnsinniger extra in Gefahr zu bringen. Ich bleibe lieber in der Nähe des Waldrandes, so dass ich mich bei Gefahr gleich wieder zurück ins Dickicht schlängeln kann.

ICH KÖNNTE DIR DEN STEIN AUF DEINE SEITE LEGEN, DORT IN DIE NÄHE DES BAUMSTUMPFES. ER IST NICHT SEHR GROSS, ICH SOLLTE IHN HOCHHEBEN KÖNNEN.
Das würdest du tun. Wow, das ist echt nett von dir, Gini. Ich heisse übrigens Balduin, Balduin Schleicher.

FREUT MICH SEHR, BALDUIN. SO, DA, ICH HABE DEN STEIN PLATZIERT DU SOLLTEST GUT DARAUF LIEGEN KÖNNEN. DER HÖHENUNTERSCHIED ZUM BODEN IST NUR ZIRKA 2 CM, UND ER BIETET GENUG PLATZ FÜR DICH ZUM DARAUFLIEGEN UND SONNENBADEN. OHNE DASS DU GEFAHR LÄUFST, VON EINEM UNACHTSAMEN RADFAHRER ÜBERFAHREN ODER VON EINEM REITER ZERTRAMPELT ZU WERDEN. 10 JAHRE IST SCHON GANZ SCHÖN ALT FÜR EINE SCHLEICHE. ICH WÜRDE GERNE MEHR ÜBER EUCH BLINDSCHLEICHEN ERFAHREN. WÜRDEST DU MIR EIN BISSCHEN VON EUCH ERZÄHLEN?
Du hast mir den Stein rübergebracht, also werde ich dir gerne was erzählen. Ich schleich nur schnell mal rüber zum Stein und leg mich dort hin. Dann kann ich sonnen, während ich dir auf deine Fragen antworte. Also, schiess los.

Schlange auf einer Strasse im Wald
Im Gespräch mit NATURZYT
Balduin Schleicher ist ein grosser Sonnenanbeter. Ausserdem ist er ein erfolgreicher Jäger Er liebt Raupen und Regenwürmer. Und mag es, im Verbund zu schlafen.

VIELE MENSCHEN HABEN ANGST VOR EUCH ODER EKELN SICH, WEIL SIE EUCH MIT SCHLANGEN VERWECHSELN. DABEI GEHÖRT IHR JA GAR NICHT ZU DEN SCHLANGEN, SONDERN ZU DEN ECHSEN. KANNST DU MIR SAGEN WELCHE UNTERSCHIEDE ES ZWISCHEN EUCH GIBT?
Also zuallererst, wir haben Augen mit runden Pupillen und Augenlidern, die wir schliessen können. Schlangen haben das nicht. Ihre Augenlider sind verwachsen und sie können diese nicht schliessen. Dann geht unser Kopf unmerklich in den Rumpf über. Bei den Schlangen sieht man das Kopfteil deutlich. Wir müssen unseren Mund leicht öffnen, um zu züngeln, da wir keine Einbuchtung im Oberkiefer haben, durch welche wir unsere Zunge schieben könnten. Das haben nur Schlangen. Wir haben eine Reihe nach hinten gebogene Zähne im Kiefer, Schlangen haben nur ein paar Greif- oder Giftzähne. Wir sind übrigens auch nicht giftig und beissen nicht. Dafür können wir einen Teil unseres Schwanzes abwerfen. Schlangen können das nicht. Also, du siehst, es gibt einige Unterschiede zwischen uns.

JA, DAS SIND EINE MENGE UNTERSCHIEDE. WIESO HABT IHR EINEN SCHWANZ, DEN IHR ABWERFEN KÖNNT? UND WÄCHST DER WIEDER NACH, WIE BEI DEN EIDECHSEN?
Leider wächst der nicht mehr nach, es wächst nur noch ein runder Stummel nach, dort, wo die Bruchstelle war. Das ist leider bei den Eidechsen besser. Aber dafür kann er uns echt das Leben retten. Wir werfen ihn nämlich nur bei äusserster Gefahr ab. Mein Cousin Erwin musste das mal machen, als eine Amsel ihn fressen wollte. Er war etwa ein Jahr alt und nur etwa 12 cm gross. Sie hatte ihn bereits am Schwanz gepackt. Gott sei Dank konnte er den Teil abwerfen. Das Ding hat sicher noch eine Minute lang im Schnabel der Amsel gezappelt. Und sie dabei so abgelenkt, dass Erwin ins Dickicht fliehen konnte. Seither ist sein Schwanz verstümmelt, aber er lebt dafür noch. War keine schöne Sache. Seit ich das gesehen hab, bin ich sehr vorsichtig. Das ist auch der Grund, wieso ich meine Schwanzspitze noch habe. Du siehst also, der Schwanz hat bei uns diese wichtige Funktion, einen Fressfeind zu verwirren und abzulenken. Damit wir uns unbemerkt verdrücken können.

DAS IST SEHR CLEVER. JA ICH HABE SCHON GESEHEN, DU BIST EIN WIRKLICHES PRACHTEXEMPLAR. DU BIST SICHER SO AN DIE 30 ZENTIMETER LANG. IN GEFANGENSCHAFT, HABE ICH GEHÖRT, KÖNNEN BLINDSCHLEICHEN BIS ZU 54 JAHRE ALT WERDEN UND BIS ZU 100 CM LANG.
Das ist in freier Wildbahn leider nicht der Fall. Da werden Schleichen kaum mehr als 10 Jahre alt. Es gibt für uns einfach zu viele Gefahren. Ich habe nur dank meiner Cleverness und Vorsicht so lange überlebt. Wir haben viele Feinde. Wir stehen bei fast der gesamten Vogelwelt auf der Speisekarte. Ebenso auf der von Igel, Dachs, Fuchs, Iltis, Hermelin und Schlange. Die von uns, welche in Gärten ihr Heim aufgeschlagen haben, sind Katze, Hund, Spitzmäusen und Laufkäfern ausgesetzt, und je nach Grösse wird sogar eine Schleiche zum Feind. Auch die Menschen machen uns das Leben schwer. Flurbereinigung nennt man das Mähen von Gras, Stauden, Randstreifen und Wiesen. Diesen Kreiselmähern sind schon viele von uns zum Opfer gefallen, das sind ganz üble Gräte. Die Beseitigung von Versteckplätzen, das «Aufräumen» von «unordentlichen » Böschungen und Ruderalfluren. Überall soll Ordnung herrschen. Die Gärten sind super gepflegt, da liegen keine Stein- oder Blätterhaufen mehr, keine Totholzstapel sollen des Gärtners Auge stören. Wo sollen wir dann noch hin? Dabei könnten wir vielen Gärtnern helfen. Anstelle von Schneckenkörnern, die für viele Wildtiere tödlich sind, könnten sie uns einen Platz in ihrem Garten einräumen, wir würden ihnen viele lästige Schädlinge von Hals halten. Zu unseren Leibspeisen zählen nämlich Nacktschnecken, Regenwürmer und unbehaarte Raupen; unser nach hinten gekrümmtes Gebiss hilft uns beim Festhalten dieser schlüpfrigen Beutetiere. Zu unserem erweiterten Beutespektrum gehören Asseln, Heuschrecken, Käfer und deren Larven, Blattläuse, Ameisen und Zikaden sowie kleinere Spinnen. Da sollte doch jeder Gärtner eine eigene Blindschleiche haben wollen oder nicht?

JA, ALSO ICH WÄRE BEGEISTERT, HÄTTE ICH EINE. BEI UNS GIBT ES GANZ VIELE NACKTSCHNECKEN, LÄUSE UND AMEISEN, WEIL WIR EINEN NATURGARTEN HABEN, IN DEM NICHTS GESPRITZT WIRD. ABER ES IST VER BOTEN, WELCHE ZU FANGEN. SIE SIND NÄMLICH GESCHÜTZT. ALSO HOFFE ICH, DASS SICH VIELLEICHT MAL EINE AUF WANDERSCHAFT BEGIBT UND BEI UNS EINZIEHT. ICH WEISS, ES IST MANCHMAL SEHR SCHWIERIG, MIT UNS MENSCHEN UND UNSEREM AUFRÄUMFIMMEL ZU LEBEN. ABER ES GIBT VIELE, DIE BEREITS UMDENKEN UND SICH BEMÜHEN, WIEDER IN EINKLANG MIT DER NATUR ZU LEBEN. SAG MAL, HAST DU EIGENTLICH FAMILIE? WIE LEBT IHR? ALS EINZELGÄNGER ODER IM VERBUND? UND SEID IHR DEN GANZEN TAG AKTIV ODER NUR IN DER DÄMMERUNG?
Hoppla, das sind aber viele Fragen auf einmal. Also, dann mal eines ums andere: Erstens: ja, ich habe eine Familie. Eigentlich sogar mehrere. Wir sind nicht treu wie Schwäne, sondern paaren uns mit einem Weibchen unserer Wahl. Um sie zu gewinnen, führen wir Ringkämpfe mit anderen Männchen durch, wir beissen den Kontrahenten, umschlingen ihn und versuchen, ihn zu Boden zu drücken. Wenn wir sie dann für uns gewonnen haben, beissen wir das Weibchen in den Nacken und paaren uns mit ihm. Das kann mehrere Stunden dauern. Nach etwa 11 bis 14 Wochen werden dann die etwa 7 bis 10 Zentimeter grossen Blindschleichen geboren und kommen in einer durchsichtigen Eihülle zur Welt, welche sie dann sofort durchstossen. Das ist so zwischen Mitte Juli und Ende August der Fall. Vor der Überwinterung wachsen sie dann kaum noch.

Zweitens: wir überwintern in einer sogenannten Winterstarre in Erdlöchern, Hohlräumen unter Baumwurzeln, liegendem Holz, Steinen, Felsspalten, auch unter Laub- und Komposthaufen oder Brennholzstapeln. und zwar meistens im Verbund von 5 bis 30 Tieren, wenn die Bedingungen es zulassen. Die Alten in der Regel zuunterst, die Jungen zuoberst. So etwa im Oktober ziehen wir uns dafür zurück, bis wir etwa ab März/April wieder erwachen.

Drittens: wir jagen als Einzelgänger in der Regel von morgens um 4 bis ca. 10 Uhr, und abends von 18 bis ca. 22 Uhr. Das kann aber auch mal etwas abweichen, wir leben schliesslich nicht nach der Uhr wie ihr. Dazwischen geniessen wir es, ein Sonnenbad auf einer warmen Fläche zu nehmen, um unsere Körperwärme zu regulieren.

Wir sehen zwar nicht so gut und wir sind auch farbenblind, aber mit unserer Nase und unserer Zunge können wir die Beute riechen und ertasten. Wir sind erfolgreiche Jäger.

Habe ich damit deine Fragen beantwortet? Ich bekomme nämlich langsam Hunger und ich habe hier in der Nähe einen leckeren Wurm gerochen. Mir wäre gerade nach etwas Körnigem. Und um den zu verspeisen, brauche ich eine gute halbe Stunde. Schliesslich schlucke ich ihn ganz, und das ist ein Prachtexemplar. 

EINE FRAGE HÄTTE ICH NOCH: WAS ISST DU AM LIEBSTEN? UND MÖCHTEST DU UNS MENSCHEN NOCH ETWAS MITTEILEN?
Das sind ja wieder 2 Fragen. Aber ich verrate es dir trotzdem. Weil unser Gespräch hat mir wirklich Spass gemacht. Ich liebe haarlose Raupen, die sind richtig saftig, dann Regenwürmer, die sind eher crunchy, und Käfer mag ich auch, die sind aussen knackig und innen saftig.

Hmh und was würde ich euch Menschen gerne mitteilen … Ach ja, ich weiss. Geht mehr mit offenen Augen durch die Welt. Es gibt so vieles zu entdecken. Unsere Erde ist voller Wunder, wenn man nur richtig hinschaut, erkennt man auch in den kleinsten Dingen die Wunder der Schöpfung, von der wir alle ein Teil sind. 

ENTSCHULDIGE, BALDUIN, ES WAREN 2 FRAGEN. ABER DEINE WUNDERBAREN WORTE WERDE ICH GERNE AN DIE MENSCHEN WEITERLEITEN. ICH WÜNSCHE DIR EINE ERFOLGREICHE JAGD UND NOCH EIN LANGES, GLÜCKLICHES LEBEN.
Danke, Gini, das wünsche ich dir auch, und wer weiss, vielleicht komme ich ja mal zu Besuch in deinen Garten.

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NATURZYT Ausgabe September 2024, Text, Foto, Illustration Virginia Knaus

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