Lai da Juata mit Tannen und schönen Wiesen im Sommer

Die Dialen, feenhafte Wesen mit Ziegenfüssen, sind aus dem Val Müstair verschwunden. Ihre einstige Heimat auf der sonnenverwöhnten Alp da Munt verzaubert heute Wanderer und Naturfreunde.

Undankbarkeit führt nicht weit. Das mussten einst auch die Bewohner des Val Müstair erfahren, des Bündner Tals in der südöstlichsten Ecke der Schweiz. Vor langer Zeit hausten auf der Alp da Munt eigenartige Wesen. Sie hatten feenhafte Gestalt und waren wunderschön, nur ihre Ziegenfüsse waren gewöhnungsbedürftig. Die Dialen, so wurden sie genannt, halfen den Menschen im Val Müstair, wo sie nur konnten. Sie spendeten den Hungrigen Nahrung, sie packten bei den Bauern mit an, und sie führten verirrte Kinder zurück zu ihren Eltern. Doch die Beschenkten trieben viel Schabernack mit den Dialen. So fehlten plötzlich Wäschestücke, welche sie zum Trocknen aufgehängt hatten, ausgeliehene Silbergabeln kamen nicht zurück, und ein wollüstiger Jüngling soll ihnen gar heftig nachgestellt haben. Da packten die Dialen ihre Schätze und Reichtümer – und wurden seither nie wieder im Tal gesehen.

Alp da Munt und der Lai da Juata

Ähnlich erging es dem Isländischen Moos, einem einst saftigen, blattreichen Gewächs. Dort, wo heute der Moorsee Lai da Juata liegt, wuchs es ausgesprochen üppig und nährte die Kühe so gut, dass sie dreimal pro Tag Milch gaben. Das passte dem faulen Senn nicht. Er verfluchte die Pflanze so sehr, dass ein Felssturz die Alp und die Weiden auf Juata unter sich begrub und einzig den kleinen See übrig liess. Seither ist Isländisches Moos ein dürres Gewächs und trägt im Val Müstair den Namen «erva smaladina», verfluchtes Kraut.

Wie viel Wahres in den Sagen steckt, ist nicht überliefert. Fakt ist jedoch: Die Schauplätze des Geschehens – die Alp da Munt und der Lai da Juata – sind ausgesprochen hübsch und lassen sich auf einer Wanderung besuchen. Das tun viele. Der Themenweg Senda Val Müstair führt vom Ofenpass an beiden Orten vorbei ins Dorf Lü. Wer es ruhiger, urtümlich und anspruchsvoller mag, nimmt sich die Alternative vor: von der Ofenpasshöhe durch das Valbella zur Alp da Munt und anschliessend vom Lai da Juata im nicht enden wollenden Zickzack durch den urwaldähnlichen God da Munt nach Tschierv. Wer diese Route wählt, kommt am Val Nüglia vorbei, das zum Schweizerischen Nationalpark gehört und mit rauer Schönheit lockt, und er macht Bekanntschaft mit den uralten, von Wind und Wetter gezeichneten Baumriesen im God da Munt.

God da Munt im Sommer bei Sonnenschein
Der God da Munt, einer der urtümlichsten Wälder im Val Müstair. Nach einer guten Stunde Waldabstieg ist man in Tschierv angelangt.

Wanderspass am Ofenpass

Den Wanderspass starten wir auf dem Ofenpass. Zu Beginn geht,s stetig bergan, vorbei an Bergföhren, Arven und unzähligen Blumen. Bald gesellt sich die Aussicht auf den Nationalpark dazu, und die könnte nicht besser sein. Die weite Ebene von Buffalora und die Gipfel von Piz Daint, Munt Buffalora, Piz Nair und Munt la Schera stehen Spalier. Schliesslich erwartet uns auf dem Weg ins Valbella noch eine Rarität: die Monte-Baldo-Segge. Wie sie es ins Val Müstair geschafft hat, weiss niemand. Die Segge stammt vom Monte Baldo, der liegt am Gardasee. Zur letzten grossen Eiszeit war der Berg eisfrei, die Segge hat überlebt. Ob die Bergamaskerschafe, die im 19. Jahrhundert um den Ofenpass weideten, die Samen mitgebracht haben?

Wanderweg zwischen Wiesen und Bäumen auf dem Ofenpass
Start am Ofenpass zur Wanderung ins Valbella. Von Weitem grüsst der Piz Daint.

Nach drei viertel Stunden ändert die Tour ihren Charakter, und zwar deutlich. Steile Gräben lösen die liebliche Blumen-Föhren-Arven-Kulisse ab, wir müssen mittendurch. Das ist nicht weiter schwierig, doch sicherer Tritt und keine Mühe, in die Tiefe zu blicken, sind gute Begleiter. Die Gräben sind eindrücklich und zeugen von der Kraft der Natur, wenn statt eitel Sonnenschein Sturzbäche vom Himmel rauschen. Drei Runsen gilt es zu queren, dann liegt es vor uns, das Val Nüglia, was so viel heisst wie Tal des Nichts. Dieses Nichts kann man zwar nicht besuchen – im Schweizerischen Nationalpark herrscht abseits der Wege Betretungsverbot – doch man kann es von Weitem bestaunen. Im Val Nüglia fi nden Rothirsche, Gämsen und Murmeltiere reichlich Nahrung, in den Lüft en kreisen oft Steinadler und Bartgeier. Ein tiefer Graben trennt die Ebene auf Chaschlot, auf der wir stehen, vom Tal. Durch die nördliche Flanke dieses Grabens setzt unser Weg sich fort, durch die Schutthalde, die vom Munt da la Bescha in die Tiefe stürzt. Ist die Stelle passiert, weitet sich das Tal. Valbella heisst es, schönes Tal. Es macht seinem Namen Ehre, je mehr wir uns dem höchsten Punkt nähern. Ist er auf 2535 Metern erreicht, taucht linkerhand ein Skilift auf. Ihm folgen wir bis zur Fuorcla Funtauna da S-charl, dann geht es rechts ab zurück ins Val Müstair.

Unser nächstes Ziel ist besagte Alp da Munt. Man könnte sie auf dem Alpweg erreichen, was reichlich eintönig ist. Besser hält man sich Richtung Pass dal Fuorn, taucht alsbald in lichten Wald ein und zweigt in der zweiten markanten Rechtskurve linkerhand auf einen nicht signalisierten Trampelpfad ab. Fast ein wenig abenteuerlich schlängelt er sich durch die Dolinenlandschaft der Alp da Munt und endet beim im Sommer geschlossenen Bergrestaurant. Die Aussicht, die sich auf das Val Müstair auftut, ist zauberhaft . Das Tal liegt einem zu Füssen, in der Ferne leuchtet der Eispanzer des Ortlers unter der Sonne. Der unübersehbare Klotz ist mit 3905 Metern höchster Berg Tirols.

Graue Felswände und grüne Wiesen des Nationalpark
Ein Stück Nationalpark: das Val Nüglia.

Durch den God da Munt - einer der schönsten Wälder

Den Ortler vor Augen, ist der zweite Sagenschauplatz bald erreicht. Das Seelein Lai da Juata ist zwar wenig spektakulär, seine Lage über dem Tal und die knorrigen Arven an seinem Ufer liefern hingegen einen idealen Platz, um auszuspannen und zu picknicken.

Der folgende Abstieg durch den God da Munt nach Tschierv ist steil, keine Frage. Aber der Weg führt durch einen der schönsten Wälder des Tals. Waldföhren, Lärchen, Kiefern und Arven sind hier zu Hause, dazu gesellen sich kniehohe Farne und bunte Disteln. Im Frühling überziehen unzählige Erikastauden die Hänge und lassen den God da Munt violett und rosa leuchten. Viele Bäume haben ein stattliches Alter erreicht, was man ihnen ansieht. Sie recken die Äste in alle Richtungen, sind zerzaust und knorrig und gleichen eigenwilligen Kunstwerken. Manch einer hat sein Leben beendet und dient der Waldgemeinschaft als Totholz, worüber sich Käfer und Insekten freuen. Zu Beginn, wo der Wald noch licht ist, guckt der Ortler am Horizont durch das Grün. Später sind wir ganz von Bäumen umgeben und wünschen uns, der Weg möge nicht mehr enden. Er tut es doch und entlässt uns oberhalb von Tschierv wieder in die Weite des Tals. Das letzte Stück ins Dorf ist asphaltiert. Ein paar Sitzbänke an bester Aussichtslage entschädigen für den Untergrund.

Tipps und Infos zur Wanderung Val Müstair

Wanderroute: Ofenpasshöhe – Chaschlot – Valbella – Fuorcla Funtauna da S-charl – Alp da Munt – Lai da Juata – God da Munt – Tschierv
Variante: Vom Lai da Juata weiterwandern über die Alp Champatsch (mit Einkehr) nach Lü. Erpart den Waldabstieg nach Tschierv.
Anforderungen: Sicherer Tritt und solide Knie sind gute Begleiter. Ansonsten keine besonderen Herausforderungen. Reine Wanderzeit: 4 Stunden, 15 Minuten
An- und Rückreise: Mit dem Zug nach Zernez, dann mit dem Postauto nach Süsom Givè (Ofenpasshöhe). Zurück mit dem Postauto ab Tschierv Biosfera.
Einkehr: Auf dem Ofenpass und in Tschierv.
Karten: Swisstopo Wanderkarte 1:50 000 Blatt Nationalpark
(459T); Swisstopo-Landeskarte 1:25 000 Blatt Sta. Maria (1239)

Flache Ebene auf der Berghöhe im Sommer

Weitere schöne Wanderungen im Sommer die man nicht verpassen sollte:

Kraxelspass am Gantrisch

Wanderung im Unterengadin zum God Tamangur

Wandern im Herzen der Zentralschweiz auf den Rossberg


NATURZYT Ausgabe Juni 2018, Text, Fotos Daniel Fleuti

 

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