Sie nennen es liebevoll «Wildi», das Wildheu, das sie in mühsamer und gefährlicher Handarbeit an den Steilhängen des Rophaien gewinnen, in schwindelerregendem Terrain über dem Urnersee. Auf dem Wildheuerpfad erfährt man viel Interessantes über das traditionelle Handwerk.
Steil und felsdurchsetzt sind die Hänge, die sich vom Urnersee zum Rophaien hinaufziehen, dem markanten Berg zwischen Flüelen und Sissikon mit dem leuchtend weissen Gipfelkreuz. Wagt man sich vom Wanderweg, der sich durch die Flanken zieht, ein paar Schritte weg, zieht es einem fast den Boden unter den Füssen weg. Diese Steilhänge sind die Heimat der Wildheuer vom Rophaien. Nach alter Tradition gewinnen sie hier Heu für die Winterfütterung ihrer Tiere im Tal und um Schlechtwetterperioden auf der Alp zu überbrücken. Die Arbeiten sind hart und mitunter gefährlich. Gemäht wird mit der Sense oder dem gesicherten Balkenmäher, Steigeisen an den schweren Schuhen sorgen für festen Stand. Wer trotzdem hinfällt, muss schnellstmöglich wieder auf die Beine, sonst droht ein Abrutschen. Bei Gewitter bieten einfache Unterstände Schutz.
Ist das Heu geschnitten, wird es mit Rechen und Gabeln zusammengetragen und auf Tristen zum Trocknen aufgeschichtet. Ins Tal gelangt das Winterfutter am Heuseil, zusammengebunden zu 50 bis 60 Kilogramm schweren Burden, den so genannten Pinggel. Das Surren und Pfeifen ist weitum zu hören, wenn die Pinggel in die Tiefe donnern. «Weshalb all die Mühe?», mag man sich fragen. Antworten gibt der Wildheuerpfad, der hoch über dem Urnersee durch die steilen Wiesenhänge des Rophaien führt und das alte Handwerk erlebbar macht.
Wanderung von Eggbergen nach Ober Axen auf dem Wildheuerpfad
Keine Angst, mit Informationstafeln eingedeckt wird man nicht auf der vierstündigen Wanderung von Eggbergen nach Ober Axen. Vielmehr laden fünfzehn hölzerne Bodenpunkte dazu ein, im Begleitheft Hintergründe zum Wildheuen nachzulesen oder sich an den wenigen Erlebnisstationen mit dem Th ema zu befassen. Wem der Sinn einzig nach einer schönen Bergtour steht, kommt ebenfalls auf seine Rechnung: Die Aussicht vom Wildheuerpfad auf den smaragdgrünen Urnersee und die Zentralschweizer Bergwelt ist bezaubernd, auf den sonnenverwöhnten Wiesen blühen die Blumen um die Wette, von unzähligen Schmetterlingen umflattert und heiss geliebt.
Die Vielfalt hat ihren Grund. Wildheuflächen sind ausgesprochen artenreich und ökologisch wertvoll. Sie werden nicht gedüngt, frühestens ab Mitte Juli geschnitten und nur alle zwei bis drei Jahre genutzt. So finden am Rophaien unter anderem Feuerlilien, Brandorchis, der Grosse Perlmuttfalter oder der Enzianbläuling optimale Lebensräume, und dank der schonenden Bewirtschaftung bleiben Ameisenhaufen und Einzelbüsche stehen, die vielen Kleinlebewesen und Insekten ein Zuhause bieten. Aus der Perspektive des Wanderers sieht das Ganze aus wie ein kleines, liebevoll gepflegtes Paradies.
Tritt- und Schwindelfreiheit braucht es an den Seilhängen am Rophaien
Der Weg durch das Paradies erfordert sicheren Tritt und manchmal Schwindelfreiheit, das ist schnell klar. Bereits beim Start auf Eggbergen schweift der Blick zu den Steilhängen am Rophaien, und man fragt sich, wie man dort wandern, geschweige denn heuen kann. Die Antwort muss warten, die ersten eineinhalb Wanderstunden sind eine gemütliche Angelegenheit. Der Wildheuerpfad führt über weitläufige Viehweiden, zu braungebrannten Alphütten und durch den lauschigen Gruonwald, der mit seinen vielen Steinblöcken zu einer ersten Rast lädt. Nach der Alp Unterer Hüttenboden ist fertig gemütlich: Wir lassen Vieh und Weiden hinter uns und tauchen ein in die steilen Wildheuerhänge. Der Weg ist kühn angelegt und an den heiklen Stellen vorbildlich gesichert. Ist man im Juli und August unterwegs, kann man den Älplern beim Wildheuen zuschauen.
Die grösste zusammenhängende Wildheufläche im Kanton Uri
130 Hektaren umfasst das «Wildi» am Rophaien, es bildet die grösste zusammenhängende Wildheufläche im Kanton Uri. Die Hälfte davon wird noch genutzt, dank Förderprogrammen und Unterstützungsbeiträgen. Die Artenvielfalt und die Pflege der Landschaft , die sonst rasch verbuschen würde, sind der öffentlichen Hand die Subventionen wert. Wirtschaftlich hat das Wildheuen jedoch seine Bedeutung verloren, im Gegensatz zu früher, als das zusätzliche Futter erlaubte, eine oder zwei Kühe mehr durch den Winter zu bringen und so das Überleben der Familie zu sichern.
Wer sich während Stunden mit der Futtergewinnung beschäftigt, kriegt irgendwann selber Hunger. Zum Glück wartet nach dem schweizweit einzigen gemähten Föhrenwald Franzen, dem letzten Posten auf dem Wildheuerpfad, das Bergbeizli Ober Axen mit Währschaft em aus der Urner Küche. Talwärts geht's danach zu Fuss – oder in schwindelerregender Seilbahnfahrt mit einem typischen Urner Kleinseilbähnli, um die steilen Hänge des Rophaien auch noch aus der Luft auszukosten.
Tipps & Infos zur Wanderung auf dem Wildheuerpfad
Wanderung: Bergstation Eggbergen – Chaltebrunne – Unter Hütten boden – Franzen – Ober Axen – Flüelen Usserdorf. Von Ober Axen besteht eine Seilbahnverbindung mit einer typischen Kleinseilbahn nach Flüelen Usserdorf.
Einkehrmöglichkeiten: Auf Eggbergen und Ober Axen sowie in Flüelen.
Anforderungen: Gut ausgebauter Bergweg mit mehreren Seilsicherungen, wo das Gelände sehr steil wird. Für trittsichere Bergwanderer und bergerfahrene Kinder ab ca. 10 Jahren ein Erlebnis. Die reine Wanderzeit beträgt rund viereinhalb Stunden. Wer in Ober Axen die Seilbahn nimmt, spart etwa dreiviertel Stunden.
An- und Rückreise: Mit dem Zug oder Auto nach Flüelen, mit der Seilbahn auf Eggbergen. Rückfahrt mit Bus ab Flüelen Usserdorf nach Flüelen.
Badeplausch zum Abschluss: Nach der Wanderung in den Urnersee springen. Bei der Haltestelle Usserdorf liegt ein öffentlich zugänglicher Badeplatz, weiter Richtung Flüelen befindet sich das Strandbad.
Karten: Swisstopo-Landeskarte 1:25 000, Blatt Muotatal (1172), oder Swisstopo-Wanderkarte 1:50 000, Blatt Klausenpass (246T).
Informationen zum Wildheuerpfad: An der Talstation der Seilbahn Eggbergen sind das Begleitheft und ein Übersichtsplan erhältlich.
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NATURZYT Ausgabe Juni 2023, Text/Fotos Daniel Fleuti