Auf einer Wanderung durch das UNESCO-Welterbe Tektonikarena Sardona kommt man der Entstehung von Gebirgen auf die Spur – und dem Bartgeier, der im wilden Calfeisental zu Hause ist.
Wandern in den Bergen gehört zu den liebsten Freizeitaktivitäten der Schweizerinnen und Schweizer, keine Frage. Doch haben Sie sich auch schon überlegt, wie unsere Berge entstanden sind, welche Prozesse beteiligt waren und welche Kräfte gewirkt haben? Wer diesen Fragen auf den Grund gehen möchte, findet im Grenzgebiet der Kantone Glarus, St. Gallen und Graubünden Antworten. Die Landschaft um den 3056 Meter hohen Piz Sardona gleicht einem aufgeschlagenen Geologiebuch. Die Entstehung von Gebirgen ist nirgendwo anders auf der Welt so deutlich zu sehen und einfach nachzuvollziehen wie hier. Die UNESCO hat deshalb das 330 Quadratkilometer grosse Gebiet unter dem Namen Tektonikarena Sardona zum Welterbe erklärt.
Der Erdgeschichte auf der Spur
Nun, es braucht ein wenig Basiswissen in Geologie, um der Tektonikarena ihre Geheimnisse zu entlocken. Die Alpen sind das Resultat der Kollision zwischen Afrikanischer und Eurasischer Kontinentalplatte. Während etwa hundert Millionen Jahren wurden mächtige Gesteinsschichten übereinander geschoben, die Berge sind gewachsen. Jüngere Schichten kamen in der Regel über ältere zu liegen. Nicht so in der Tektonikarena Sardona. Während der Alpenbildung wurden hier 300 Millionen Jahre alte, dunkle Verrucano Gesteine über zehnmal jüngere, helle Flyschgesteine geschoben. Die Berge stehen gewissermassen kopf. Der Prozess vollzog sich entlang der Glarner Hauptüberschiebung, einer scharfen Linie, die in der Tektonikarena über 35 Kilometer deutlich sichtbar ist. Sie gibt Einblick in Abläufe, die einst tief im Erdinneren unter hohen Drucken und Temperaturen stattgefunden haben und dem menschlichen Auge in der Regel verborgen sind.
Die Glarner Hauptüberschiebung ist nicht der einzige Zeuge der Gebirgsentstehung in der Tektonikarena. Das Gebiet ist voll sogenannter Geotope, Fenster zur Erdgeschichte. Einzigartig ist aber auch die Landschaft rund um den Piz Sardona. Hochmoore, Seen, Wildbäche, Schluchten, Schwemmebenen und eine reiche Tier- und Pflanzenwelt begegnen einem auf Schritt Tritt. In dieser urwüchsigen Ecke der Schweiz zu wandern ist purer Genuss, egal ob man an Geologie interessiert ist oder nicht.
Bei den Walsern zu Besuch
Wer genug Zeit mitbringt, wagt sich an den Sardona Welterbe-Weg, der in sechs anstrengenden und eindrücklichen Etappen quer durch die Tektonikarena führt, von Filzbach am Walensee nach Flims. Für eine Wochenendtour pickt man einfach ein Teilstück heraus, zum Beispiel den Abschnitt von der Sardonahütte nach Weisstannen. Er bringt einem nicht nur den stolzen Piz Sardona und die Glarner Hauptüberschiebung näher, sondern macht auch bekannt mit dem Calfeisental, einem Juwel von Bergtal und einem Leckerbissen für Natur- und Wildnisfreunde.
Eindrucksvoll ist schon der Zustieg zur Sardonahütte am ersten Tag. Los geht’s am Staudamm Gigerwald, Endstation für das Postauto aus Bad Ragaz. Auf den letzten Metern Fahrt hat sich das Tal merklich verengt, der Stausee, der sich vor uns ausbreitet, ist zwischen steil abfallenden Felswänden regelrecht eingeklemmt. Für die Naturstrasse, die uns in einer knappen Wanderstunde nach Sankt Martin bringt, bleibt kaum Platz.
Die Siedlung ist kein Zeuge der Erdgeschichte, sondern der Walser, die das Calfeisental zwischen 1300 und 1650 bewohnten. Sankt Martin war das Zentrum: eine Handvoll sonnengebräunter Walserhäuser, eine kleine Kirche und ein Wirtshaus, wo man heute mit Selbstgemachtem verwöhnt wird.
Mit dem Bartgeier in die Höhe
Abenteuerlustige wählen für den Weiterweg den verschlungenen Pfad auf der rechten Talseite, Gemütlichwanderer halten sich an die Alpstrasse. Bei der Alp Sardona treffen sie sich wieder, zum Schlussaufstieg zur Sardonahütte. Sie ist ein Hort einfacher Gemütlichkeit auf einer Aussichtskanzel über dem Tal. Wer Glück hat, erspäht in den Lüften den Bartgeier. Im Calfeisental sind zwischen 2010 und 2014 ein Dutzend der imposanten Aasfresser ausgewildert worden. Die letzten beiden Junggeier, Noel-Leya und Schils, haben Schlagzeilen gemacht. Noel-Leya fand zu wenig Futter und wurde Ende 2014 wieder eingefangen. Im Tierpark Goldau kam das junge Männchen zu neuen Kräften, Anfang April konnte Noel-Leya im Oberalpgebiet ein zweites Mal in die Freiheit entlassen werden.
In die Freiheit der Berge rund um den Piz Sardona geht es auch für uns am nächsten Morgen – und zwar früh. Weisstannen ist sechs Wanderstunden entfernt. Der Weg ist einmal mehr ein Traum, er führt uns über unzählige Bäche, Hochebenen und Moore zum lauschigen Plattenseeli und über den steilen Heidelpass ins Weisstannental, die markante Linie der Glarner Hauptüberschiebung stets im Blick. Ein letzter Höhepunkt ist der Felsenkessel Batöni. Drei Wasserfälle stürzen hier ins Tal, unser Wanderweg schlängelt in spektakulärer Linienführung in die Tiefe. Das Weisstannental war vor langer Zeit ebenfalls Schauplatz einer Wildtieraussetzung. 1911 wurde der Grundstein zur Schweizer Steinbockpopulation gelegt. Heute scheint es den Tieren prächtig zu gehen. Es ist fast unmöglich, ihnen unterwegs nicht zu begegnen.
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NATURZYT Juni 2015, Text/Foto Daniel Fleuti