Luchse lieben dichte Wälder, steile Flanken und einsame Höhen. Wanderer ebenso. Also gefällt es beiden im wilden Zürcher Tössbergland. Dort , wo rund ums Schnebelhorn die Geschichte der Ostschweizer Luchspopulation ihren Lauf genommen hat.
Jahrzehntelang ist es ruhig im Tössbergland, dem Grenzgebiet der Kantone Zürich und St. Gallen. Zwar werden in der voralpinen Berglandschaft mit ihren steilen Hügeln, tiefen Schluchten, dichten Wäldern und nagelfluhdurchsetzten Felsrippen Kühe gesömmert, in den Wirtschaften über Politik, Motoren und Fussball diskutiert und auf Wanderwegen Erholung gesucht. Doch eigentlich passiert nicht viel in dieser abgelegenen Region – bis am 5. März 2001 am Tössstock, mitten im Tössbergland, das Luchspaar Nura und Vino in die Freiheit entlassen wird.
Bis 2008 wurden 12 Luchse ausgewildert
Ein Jahr zuvor hatten die Kantone St. Gallen, Zürich, Thurgau und die beiden Appenzell beschlossen, den Luchs in der Nordostschweiz wieder anzusiedeln. Er sollte helfen, die Schäden von Rehen und Gämsen im Wald zu reduzieren, stehen doch beide im Speiseplan der Raubkatze zuoberst. Bis 2008 werden 12 Luchse ausgewildert, sie stammen aus dem Kanton Bern, der Westschweiz und dem Jura. Die neuen Waldbewohner finden zwar beste Lebensbedingungen, aber nicht nur Freunde. Schaf- und Ziegenbauern sowie Jäger begegnen ihnen skeptisch, man fürchtet gerissene Nutztiere und weniger Jagderträge. Immer wieder erleidet das Umsiedlungsprojekt Rückschläge, weil Luchse verschwinden.
Die Zeiten sind Geschichte. Der Luchs hat sich im Tössbergland und dem angrenzenden Toggenburg etabliert, Schäden an Nutztieren sind weitgehend ausgeblieben , und der Jägerschaft beschied der Kanton St. Gallen, sie müsse lernen, ihre Beute mit den Raubkatzen zu teilen. Zeit also für eine Wanderung in dieses Tössbergland, in dem nicht nur der Luchs zu Hause ist, sondern auch das Schnebelhorn, der mit 1291 Metern höchste Berg der Zürcher. Man besteigt ihn am besten von den St. Galler Nachbarn aus, dann hat man die Wege fast für sich.
Beste Aussicht auf den Zürichsee, den Bodensee, das Toggenbrug, den Säntis und die Churfirsten
Libingen heisst das Toggenburger Dorf, das am Fuss des Schnebelhorns sitzt. Eine kurvenreiche Fahrt mit dem Postauto bringt uns hin. Schon von Weitem zeigt der höchste Zürcher, was er zu bieten hat: einen abschüssigen, waldigen Rücken. Und er ist nicht allein. Roten, Schnebelhorn, Schindelegg, Habrütispitz und Chrüzegg formen eine Bergkette, über deren Grate eindrückliche Wege führen. Mal sitzen sie ganz oben, mal verlaufen sie in den Flanken. Aber immer bieten sie beste Aussicht auf den Zürichsee, den Bodensee, das Toggenburg, das Glarnerland, die Churfirsten, den Säntis und eben auf das Tössbergland mit dem Tössstock in der Mitte, dem Luchsberg.
Die Tour verlangt von Beginn weg beherzten Einsatz. Erst steil über Weiden, dann etwas sanft er auf einem Alpsträsschen geht’s bergan, bei der Sitzbank auf Unterstein ist eine Rast fällig. Blickt man um sich, wird klar, weshalb das Gebiet für die Luchsumsiedlung ausgesucht worden ist: In den dichten Wäldern findet die Raubkatze ideale Lebensbedingungen. Der Luchs jagt gut getarnt im Dickicht, seine Beute – vorzugsweise Rehe und Gämsen – muss er nach wenigen Sätzen stellen, sonst ist sie weg.
In die Sätze bringt uns nach dem Hof Unterstein kein Luchs, sondern ein kapitaler Stier. Er weidet direkt am Wanderweg mit seiner Herde, wir machen, dass wir wegkommen. Kurz darauf haben wir die Wahl: Schnebelhorn über den Grat oder durch die Flanke. Der Grat bringt Aussicht, die Flanke ein sympathisches Berggasthaus namens Meiersalp. Es wird nicht das letzte sein, das Tössbergland ist auch Bergbeizliland.
Der breite Grad auf dem Schnebelhorn
Das Schnebelhorn ist ein zäher Brocken. Der breite Grat wird steil und steiler, und kurz bevor er nach hinten kippt, steht man oben, bei Kreuz, Tisch und Bank. Unter der Woche ist es angenehm ruhig hier, am Wochenende herrscht Wanderbetrieb. Die meisten steigen vom Tösstal hoch, die Libinger Seite ist ihnen zu steil, der Weg vom Schutt über die Chrüzegg zu lang. Gut, wollen wir da hin, so sind wir bald wieder allein.
Der Pfad spielt weiter auf und ab: Mal sitzt er auf dem Grat, mal wechselt er in die Flanke. Das bringt Abwechslung und Höhenmeter. Nach der Schindelegg könnten wir absteigen, auf einem Bergweg nach Libingen. Die weiss-rote Markierung sollte man ernst nehmen, Kraxeln in Nagelfluh-Steilwänden ist angesagt. Das machen wir ein andermal und bleiben oben.
Nach dem nächsten Gipfel, dem Habrütispitz, ist Kulissenwechsel. Der Weg schlängelt durch einen mit Felsbrocken übersäten Wald – es scheint, als würden hier Riesen kegeln. Fehlanzeige. Die Felsen stammen von einem Bergsturz. Haben wir den letzten passiert, stehen wir unweit der Chrüzegg auf dem letzten Gipfel der Tour. Jetzt geht's nur noch abwärts, Schutt heisst das Ziel, Talstation der Atzmännig-Seilbahn. Unterwegs begegnen wir einigen Hinterlassenschaften – nicht vom Luchs, aber vom Fuchs. Seinen Bestand haben die Raubkatzen, im Gegensatz zu Reh und Gämse, nicht dezimiert. So ein Fuchs gibt schlicht zu wenig her für einen volle Magen.
Tipps & Information zur Wanderung im Zürcher Tössbergland
Wanderung: Libingen – Unterstein – via Gratweg oder Meiersalp – Schnebelhorn – Schindelberg – Rossegg – Habrütispitz – Chrüzegg – Schutt.
Varianten: Von der Chrüzegg die Höhenwanderung fortsetzen über den Tweralpspitz auf den Atzmännig und von dort mit der Sesselbahn talwärts. Etwa gleich lang. Eine gute Stunde kürzer wird die Tour, wenn man vom Schindelberg nach Libingen absteigt. Erfordert sicheren Tritt und solide Knie.
Anforderungen: Mit 5 Stunden reiner Wanderzeit und je 900 Höhenmetern im Auf- und im Abstieg fordert die Tour solide Kondition. Die Wege sind gut zu begehen, einzelne Stellen erfordern sicheren Tritt auf dem Nagelfluh-Untergrund.
An- und Rückreise: Mit dem Zug via Zürich und Wil nach Bütschwil, dann mit dem Postauto nach Libingen. Zurück von Schutt mit dem Bus nach Rüti (ZH). Ab dort weiter mit dem Zug.
Einkehr: In Libingen, auf der Meiersalp, am Schindelberg, auf der Chrüzegg und in Schutt sowie etwa 20 Minuten unterhalb des Schnebelhorns im Tierhag.
Karten: Swisstopo -Wanderkarte 1:50 000, Blatt Rapperswil (226T); Swisstopo -Landeskarte 1:25 000, Blätter Hörnli (1093) und Ricken (1113)
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NATURZYT Ausgabe März 2023, Text/Fotos Daniel Fleuti