brauner Regenwurm auf braunen Herbstblätter

Wir sind nicht die einzigen Lebewesen auf diesem Planeten, doch wir sehen die Dinge immer nur aus unserer Sicht. Wie aber wäre es, wenn wir hören könnten, was unsere 4-, 8- oder 111-beinigen Mitbewohner dieser Erde uns zu sagen haben? Was würden sie wohl über uns Menschen denken, und wie würden sie ihr Zusammenleben mit uns empfinden?

Eine spannende Idee – sähen wir das ganze einmal aus ihrer Sicht und erführen, was sie uns alles zu sagen hätten. Naturzyt hat sich deshalb entschlossen, neue Wege auszuprobieren und sich darüber Gedanken zu machen, was wäre, wenn sie wie wir sprächen und wir sie einfach fragen könnten. Er lebt unter der Erde und kommt nur heraus, wenn es regnet. Als Kind gehörte es oft zu Mutproben, einen seiner Art zu essen. Viele ekeln sich vor ihm. Doch gehört er, obwohl schmächtig, zu den stärksten Tieren dieser Welt. Er ist ein regelrechter Wohltäter, arbeitet er doch stetig an der Verbesserung unsere Erde. Ohne ihn würden kein Gemüse, kein Obst und keine Früchte gedeihen. Auch wenn er phlegmatisch wirkt, ist er doch ein unermüdliches Arbeitstier – unser Regenwurm. Wann immer ich im Garten arbeite, etwas Neues setze oder den Boden auflockere, kommen sie unter der Erde hervor. Höchste Zeit, einmal diese versteckten Gesellen, die doch so nützlich sind, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

HALLO, MEIN LIEBER. DU MUSST DICH NICHT WINDEN, ICH TU DIR NICHTS. ICH WÜRDE GERNE EIN KLEINES INTERVIEW MIT DIR FÜHREN, WENN’S RECHT IST?
Was ist denn ein Interview? Und wer bist du?

ICH BIN GINI VON NATURZYT. DAS IST EIN MAGAZIN, WELCHES UNSEREN LESERN DIE NATUR NÄHERBRINGT IN ALL IHRER VIELFALT. UND EIN INTERVIEW IST EIN GESPRÄCH UNTER 2 VERSCHIEDENEN PERSÖNLICHKEITEN.
Ach so, und du findest, ich sei eine Persönlichkeit? Das ist aber richtig nett.

JA, DAS FINDE ICH. JEDES INDIVIDUUM AUF UNSERER ERDE IST EINE PERSÖNLICHKEIT, EGAL, WIE ES AUSSIEHT ODER WIE ES SICH VERSTÄNDIGT. WÜRDEST DU MIR EIN PAAR FRAGEN BEANTWORTEN
Klar, gerne. Was willst du denn wissen? Und wieso kann ich dich verstehen, schliesslich bin ich ja taub? Sprich, ich höre eigentlich ja gar nichts.

TJA, WEISST DU, WIR MACHEN UNS BEI ALLEM, WAS WIR SAGEN, EIN BILD DAVON IM KOPF. DIESES BILD FÄNGST DU WAHRSCHEINLICH AUF UND VERSTEHST MICH DESHALB. DAS NENNT MAN AUCH TELEPATHIE. ALSO, DASS IHR NICHTS HÖRT, WISSEN WIR JA JETZT. ICH WÜSSTE ABER AUCH GERNE, OB DU EINEN NAMEN HAST UND WAS FÜR EINE ART REGENWURM DU BIST. DAVON GIBT ES HIER ANSCHEINEND UM DIE 40 VERSCHIEDENE ARTEN.
Ja, und weltweit gibt es sogar etwa 670 verschiedene Arten Regenwürmer. Ich bin ein Prachtexemplar von einem Tauwurm. Das sind diejenigen, welche meistens in Gärten und auf Wiesen vorkommen. Mein Name ist Winifred Wurm.

FREUT MICH SEHR, WINIFRED. WÜRDEST DU UNS BITTE ETWAS ÜBER DICH UND DEINE SPEZIES ERZÄHLEN? WIE UND WOVON IHR LEBT. WIE LANGE IHR LEBT UND WIE IHR EUCH FORTPFLANZT. EBEN ALLES, WAS DIR INTERESSANT AN EUCH SCHEINT UND DU UNSEREN LESERN GERNE ERZÄHLEN MÖCHTEST.
Okay, wo fange ich dann da an? Leider haben wir optisch nicht die besten Karten. Wir sind nicht so süss und kuschlig wie Kätzchen, nicht so anhänglich wie Hunde und auch nicht so beeindruckend wie ein Bär. Aber ohne uns wäre Mutter Erde ganz schön schlimm dran. Wir sorgen nämlich dafür, dass das Erdreich immer gut durchlüftet wird und so der Boden Nässe gut aufnehmen kann. Man unterschätzt uns einfach massiv. Früher dachte man, dass wir die Wurzeln der Pflanzen zerstören, aber das Gegenteil ist wahr. Wir helfen den Pflanzen. Um uns vor Hitze und Trockenheit zu schützen, graben wir bis zu 2 Meter lange Wohnröhren in die Erde, welche wir mit Blättern und unserem Kot stabilisieren. Stell dir vor, 1 Quadratmeter Wiese kann somit bis zu 1000 Röhren enthalten. Dank denen können die Wurzeln der Pflanzen in tiefere und feuchtere Bodenschichten gelangen und dort mehr Nähstoffe aufnehmen. Unser Tunnelsystem lockert das Erdreich auf, sodass es das Wasser eines Platzregens aufnehmen kann wie ein Schwamm und das Wasser danach auch gut wieder abfliesst. Schwere Maschinen und rotierende Geräte wie Bodenfräsen zerstören unsere Tunnelsysteme, töten uns und verdichten den Boden so, dass Wasser nicht mehr richtig versickern kann und somit einfach alles oberflächlich weggespült wird. Ich ernähre mich wie alle anderen Würmer von abgestorbenen Pflanzenteilen, Bakterien, Algen, Einzellern und Bodenmaterialien. Wir sind echte Gourmets, wenn wir können. Ich esse lieber Kirschenblätter als Kohl, lieber Sellerie als Pastinake und am allerliebsten mag ich Meerrettich. Geschmackssinn haben wir also dank unserer Sinnesknospen in der Mundhöhle. Nahrung saugen wir als Brei auf, welche n Bodenlebewesen für uns vorbereiten, da wir ja keine Zähne haben, und scheiden sie nach der Verdauung wieder aus. Unser Kot enthält sowohl organisches wie auch mineralisches Material, was ihn zu einem exzellenten Pflanzendünger macht. Pro etwa fussballfeldgrossem Stück Land produziere ich pro Jahr etwa das Gewicht von ca. 9 Lastwagen Kompost durch meine Arbeit.

DAS IST EXTREM BEEINDRUCKEND. WIE SCHAFFT IHR DENN DAS? 
Wir sind enorm stark. Beim Bau unserer Tunnel vermögen wir etwa das 60- Fache unseres eigenen Körpergewichts zu stemmen. Das ist, als ob ein 80-Kilo-Mensch 4,8 Tonnen stemmt. Ich bin ein schöner grosser Tauwurm mit meinen 27 Zentimetern. Also ein echter Muskelprotz. Tauwürmer können 9 bis 30 Zentimeter gross werden, Kompostwürmer 6 bis 13 Zentimeter. Durch das Strecken und Zusammenziehen meiner einzelnen Muskeln in den rund 150 Körpersegmenten kann ich mich vor- und rückwärts bewegen, und wenn ich mich breit mache, so die Erde zur Seite schieben. Die Blätter ziehen wir in unsere Tunnel , indem wir uns daran festsaugen. Wir packen bei gröberen Blättern diese an den Blattspitzen, bei weicheren oder feineren Blättern packen wir sie am Blattansatz oder an der Blattmitte, das geht einfacher. Das machen wir, um sie dort verrotten zu lassen und später als Nahrung wieder verwenden. Wir können übrigens auch abgetrennte Hinterteile wieder vollständig regenerieren.

gezeichneter grinsender Regenwurm der aus der Erde schaut.
Im Gespräch mit NATURZYT Winifred Wurm , ein stattlicher , 27 Zentimeter langer Tauwurm. Lebt seit 2 Jahren im Redaktionsgarten unter dem Fliederbusch. Mag am allerliebsten Meerrettichbrei, schläft nie, verfällt dafür aber regelmässig in Winterstarre.

DANN IST ES ALSO WAHR, WAS MAN SAGT ? WENN DU EINEN WURM IN ZWEI TEILE TRENNST, WERDEN DANN DARAUS ZWEI WÜRMER? 
Nein, nicht so ganz. Der Kopfteil wird weiterleben und den Hinterteil wieder regenerieren, sofern nicht mehr als 15 Segmente abgetrennt wurden. Der Hinterteil bildet dann ein gegenüberliegendes Hinterteil, sprich der Wurm hat dann 2 Hintern, was ihn am Fressen hindert , weshalb er verhungern wird. Das ist, weil wir die genetische Anlage besitzen , den Aft er wieder auszubilden, aber nicht den Kopf. In der Natur kommt das aber eher selten vor , da bestimmt schon irgendwo ein Vogel lauert und den abgetrennten Teil frisst. Wir können in Gefahr auch einen Teil unseres Körpers abschnüren, damit wir flüchten können. Da wir keine Augen haben sehen wir zwar nichts, haben aber am vorderen und hinteren Ende unseres Körpers Sehzellen in unserer Epidermis, so sind wir wenigstens in der Lage , hell und dunkel zu unterscheiden. Ausserdem atmen wir durch die Haut, ist ziemlich komplex das Ganze und wird über unser Blutgefässsystem gesteuert. Wir haben auch ein unwahrscheinlich hoch entwickeltes Nerven system. Mit 1 bis 2 Jahren werden wir dann geschlechtsreif, das zeigt sich dann an einem sogenannten Gürtel, einer Verdickung vom 27. bis 35. Segment. Wir sind Zwitter und begatten uns wechselseitig , indem wir ein Sekret aus den Drüsen ausscheiden. Die Eier werden dann in Kokons abgelegt. Kompostwürmer schlüpfen dann etwa nach 16 bis 20 Tagen, Tauwürmer nach etwa 135 Tagen bei einer Durchschnittstemperatur von etwa 12 Grad Celsius. Dadurch, dass wir eine Bodentemperatur von ca. 10–14 Grad benötigen und feuchte Erde, sind wir in den Sommer und Wintermonaten weniger bis gar nicht aktiv. Überwintern tue ich in ca. 40 bis 80 Zentimeter Tiefe in einer Art Kältestarre. Ich bin jetzt schon 2 Jahre alt , und es hat schon welche gegeben, die bis zu 10 Jahre alt geworden sind. Ist allerdings eher selten, da wir ja so viele Fressfeinde haben. Da sind verschiede ne Vögel, Laufkäfer, Marder, Igel, Spitzmäuse, Frösche, Ameisen, Hundertfüsser und vor allem Maulwürfe. Die beissen uns ins vordere Ende, sodass wir bewegungsunfähig werden, und verwahren uns in ihren Vorratskammern. Gruselig , sag ich dir. Ausserdem Pestizide, grosse , schwere Landwirtschaftsmaschinen etc. Hast du sonst noch Fragen?

DANN HOFFE ICH, DASS DU NOCH EIN PAAR TOLLE JAHRE VOR DIR HAST UND NICHT GEFRESSEN WIRST, DENN DEIN JOB IST WIRKLICH UNGLAUBLICH WICHTIG. EINE FRAGE HABE ICH NOCH. WESHALB KOMMT IHR AUS DER ERDE , WENN ES REGNET ODER AUCH WENN MAN AUF DEN BODEN TROMMELT?
Starke Vibrationen erschrecken uns, denn sie signalisieren uns Gefahr. Das ist auch ein Grund, weshalb jeweils an der Street Parade Tausende Regenwürmer an die Oberflächen der Wiesen kommen. Ein Festmahl für die Vögel.

DAS TUT MIR SEHR LEID. CHARLES DARWIN WAR SCHON FASZINIERT VON EUCH REGENWÜRMERN UND ICH BIN ES NUN AUCH. ICH DANKE DIR, WINIFRED, FÜR DIESE SPANNENDEN EINSICHTEN IN EUER LEBEN. DANKE FÜR ALL DAS, WAS IHR TAGTÄGLICH FÜR UNSERE ERDE TUT. IHR SEID WOHL DAS WICHTIGSTE TIER FÜR UNSRE NATUR. DER KÖNIG DER ERDE. 
Es war mir ein Vergnügen, Gini. Ich hoffe, dass eure Leser uns nun mit anderen Augen sehen können und auf uns Rücksicht nehmen. Wir sind da, auch wenn man uns nicht immer sieht, da wir nachtaktiv sind und unter der Erde wohnen.

DAS HOFFE ICH AUCH, DENN SCHON LAO TSE HAT GESAGT: «EIN WAHRHAFT GROSSER MENSCH WIRD WEDER VOR DEM KAISER KRIECHEN NOCH EINEN WURM ZERTRETEN.» AUF WIEDERSEHEN , WINIFRED.
Tschüss alle zusammen.

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NATURZYT Ausgabe Juni 2023, Text, Illustration Virginia Knaus, Foto AdobeStock

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