Stausee Garichti im Sommer auf der Mettmeralp

Der Föhn und der Neid seien die ältesten Glarner. Sagen die Glarner. Auf einer Wanderung durch den Freiberg Kärpf, das älteste Wildschutzgebiet Europas, können einem beide begegnen.

Der älteste Glarner ist ein stürmischer Kerl. Wer ihn kennen lernen will, besucht das Glarnerland, wenn der Wetterbericht starken Föhn ankündigt. Windspitzen von 100 Stundenkilometern und mehr sind dann keine Seltenheit, dazu zaubern die Wolken gewaltige und bisweilen furchterregende Stimmungen an den Himmel. So wie heute. Der Techniker der Gondelbahn von Elm aufs Ämpächli beruhigt. Die Bahn verkehre bis zu Windgeschwindigkeiten von 20 Metern pro Sekunde, das entspricht immerhin Windstärke 8. Blase der Föhn heftiger, werde die Fahrt unterbrochen. Unsere Gondel gelangt ohne Unterbruch aufs Ämpächli, einem guten Ausgangspunkt für Wanderungen im Freiberg Kärpf. Der älteste Glarner reisst als Willkommensgruss ein Loch in die Wolkendecke und lässt die Sonne hindurchscheinen.

Zum Schutz vor Feuerwaffen

Der Freiberg Kärpf ist, anders als der Name vermuten lässt, kein Gipfel, sondern ein Wildschutzgebiet, genauer gesagt ein Eidgenössisches Jagdbanngebiet. Seit 1548 steht die 106 Quadratkilometer grosse Fläche zwischen Linth- und Sernftal unter Schutz, das entspricht einem Sechstel des Kantons Glarus. Den Grundstein zum ältesten Wildschutzgebiet Europas gelegt hatte Landammann Joachim Bäldi. Das Wachstum der Bevölkerung, die Ausdehnung der Alpweiden und das Aufkommen von Feuerwaffen machten ein Jagdverbot nötig, argumentierte er. Die stark dezimierten Gämsen und Murmeltiere sollten vor der Ausrottung bewahrt werden. Der Steinbock war zu diesem Zeitpunkt ohnehin fast verschwunden.

Steine mit Markierungen in den Bergen im Herbst
Bergwärts: Am Sonnenhang dem Chüebodensee entgegen. Zwischendurch passiert man neugierige Rinder.

Ein Brautpaar, zwei Gämsen

Vorbei war die Jagd im Freiberg Kärpf mit der Initiative Bäldis nicht, dafür sorgte der Kanton mit Sonderbestimmungen. Die amüsanteste ist wohl diejenige der Hochzeitsgämsen. Jeder Landmann, der zwischen Jakobi (25. Juli) und Martini (11. November) heiratete, durfte für sein Festmahl im Kärpfgebiet zwei Gämsen schiessen. Die Glarner zeigten sich heiratswillig: Zwischen 1663 und 1777 landeten 6000 Tiere aus dem Wildschutzgebiet in den Kochtöpfen, was den Kanton zum Handeln bewog. Fortan mussten sich die Gesellschaften mit einer Gämse begnügen, und 1792 schob er auch dieser Ausnahmebewilligung den Riegel. Weiterhin praktiziert wurde hingegen die Wilderei, uns so erholte sich das Wild im Freiberg Kärpf erst nach dem Zweiten Weltkrieg richtig. Heute erspäht man mit etwas Glück Gämsen, Steinböcke, Hirsche, Rehe oder Steinadler, und auch Birk- und Auerhühner fassen wieder Fuss.

Wanderweg im Herbst in der Freiberger Kärpf
Mitten im Freiberg Kärpf: Mit viel Glück entdeckt man beim Wildmadfurggeli Steinböcke.

Wo die Berge Kopf stehen

Von unberührter Natur ist während der ersten halben Wanderstunde noch wenig auszumachen. Der Weg folgt der neusten Attraktion der Sportbahnen Elm, dem Riesenwald, einem Erlebnisparcours für Familien. Bei der grossen Feuerstelle angelangt, heisst es endgültig die Wanderschuhe schnüren, der lange Aufstieg zum Chüebodensee steht bevor. Kehre um Kehre windet sich der Weg in die Höhe, vorbei an neugierigen Rindern und über den munter plätschernden Bergbach. Die grösste Attraktion aber zeigt sich auf der gegenüberliegenden Talseite: die Tschingelhörner mit dem Martinsloch. Auffallend ist die Linie, die sich durch die Felswand zieht.Sie heisst Glarner Hauptüberschiebung und wurde von der UNESCO als Welterbe anerkannt. Das Gestein oberhalb der Linie ist etwa zehnmal älter als das darunterliegende, die Berge stehen, geologisch gesehen, Kopf. Bei der Entstehung der Alpen wurden nämlich in der Regel jüngere Gesteinsschichten auf ältere geschoben. Die Glarner Hauptüberschiebung ist auf einer Länge von 35 Kilometern zu sehen. Sie zieht sich rund um den Piz Sardona und umfasst ein Gebiet von 330 Quadratkilometern Grösse.

See und Herbstwiesen im Sernfins Niederental
Fast wie im hohen Norden: das seenreiche Hochplateau Wildmad im Übergang vom Sernfins Niderental.

Ein Plateau voller Bergseen

Besonders schön ist die Aussicht auf das Naturphänomen beim Chüebodensee; der tiefblaue, von einem Felskranz flankierte Bergsee lädt förmlich zur Rast. Reich an Wasser ist auch der folgende Übergang über die Wildmad. Grosse und kleine, runde und langgezogene Tümpel und Seelein überziehen die Hochebene. Wäre da nicht der Glärnisch, der sich auf dem höchsten Punkt ins Blickfeld drängt, man wähnte sich irgendwo im hohen Norden. Die Felsbastion wird uns auf dem Abstieg zur Mettmenalp mit ihrem tiefblauen Stausee Garichti begleiten.

Das vergletscherte Glärnischmassiv gehört, ähnlich wie die Tschingelhörner, zu den Grössen der Glarner Bergwelt – nicht zuletzt wegen des hell leuchtenden Schneefelds am Vrenelisgärtli, das zwar nicht von der Wildmaad, dafür aber von Zürich aus auszumachen ist. Bei guter Fernsicht, zum Beispiel an Föhntagen.

Chüebodensee im Herbst bei Sonnenschein
Ein Bild von See: Der Chüebodensee ist wie geschaffen für eine ausgiebige Rast.

Mit Föhn und Neid

Womit wir wieder beim ältesten Glarner wären. Wer mit ihm durch den Freiberg Kärpf will, muss sich auf einiges gefasst machen und in Kauf nehmen, dass er ihn vielleicht zur Umkehr zwingt. Mehr Genuss verspricht stabiles Herbstwetter, wenn sich über dem Unterland Nebel ausbreitet und die Bergspitzen zum Greifen nah sind. Unterwegs ist man an solchen Tagen in Begleitung eines anderen ältesten Glarners: dem Neid. Dem der Daheim gebliebenen.

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NATURZYT Ausgabe September 2016, Text/Fotos Daniel Fleuti

 

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